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Spiels noch einmal

Spiels noch einmal

Titel: Spiels noch einmal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esi Edugyan
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dagegen tun. So saßen wir beide auf dem South Broadway und wieherten und kicherten wie zwei Irre, die aus Spring Grove entsprungen waren.
    Ich war vom Jazz infiziert. Er ließ mich nicht mehr los.

    Irgendwann trat Brachland an die Stelle der Felder. Wir kamen an Zufahrten vorbei, die mit primitiv zusammengezimmerten Barrieren und rostigem Stacheldraht abgesperrt waren, an alten Holzhäusern, die wie Sperrmüll in der Landschaft standen und langsam verrotteten. Der Anblick war nichts Neues für mich. Ich kannte den Geruch von Kernseife und billigem Tabak, der in solchen Häusern hängt, die Wohnzimmer voller Zierdeckchen und Spinnweben und Witwen.
    Von Zeit zu Zeit hielt der Bus an irgendeinem Feldweg oder einer Hofzufahrt an, und ein Fahrgast kletterte hinaus, nahm sein Gepäck aus dem Kofferraum und verschwand in der Landschaft. Ungefähr die Hälfte der Leute war schon ausgestiegen, es stieg niemand mehr ein.
    »Polen«, murmelte ich.
    Ich stupste Chip. Er grunzte.
    »Warum Polen? Verstehst du das?«
    »Was?« Chip versuchte seine Füße auf den Sitz gegenüber zu legen, aber seine Beine waren zu kurz. Sein Gesicht wirkte wie Leder, die Haut schlaff, der Mund hing herunter. »Warum Polen – von was redest du überhaupt?«
    »Warum hat er sich ausgerechnet Polen ausgesucht?«
    Chip verzog das Gesicht. »Mann, in seinem Leben gibt doch gar nichts irgendeinen Sinn.«
    »Ja, ich weiß. Trotzdem finde ich es merkwürdig.«
    »Halleluja, was für eine Erkenntnis! Natürlich ist es merkwürdig, was sonst?«
    Eine Weile saßen wir schweigend da, aber die Sache ging mir einfach nicht aus dem Kopf. Meine Beine vibrierten im Rhythmus der rollenden Reifen. Auf der anderen Seite des Mittelgangs pellte eine alte Frau mit Kopftuch ein hartgekochtes Ei. Sie hielt es behutsam zwischen ihrem knorrigen Daumen und einem Finger – sie hatte nur noch drei Finger. Ich bemühte mich, sie nicht allzu aufdringlich anzustarren, als sie sich das Ding auf einmal in den Mund schob und zu kauen anfing.
    Offenbar hatte auch Chip die ganze Zeit nachgedacht, denn nach ein paar Minuten sagte er: »Wahrscheinlich kann nur Hiero selbst eine Antwort darauf geben. Warum er nach Polen gegangen ist, meine ich.«
    Ich sah ihn an. »Überleg doch mal: Der Junge war gerade erst aus dem KZ befreit worden – wieso geht er da nicht in den Westen? Wieso will er in den Osten? Wenn du schwarz bist und verhaftet worden bist, weil du überall rausstichst wie ein Kalb mit zwei Köpfen, dann möchtest du doch irgendwohin, wo du weniger auffällst, oder nicht? Überall im Land gab es Leute aus den Lagern. Wieso sollte so einer nach Osten gehen? Das gibt doch keinen Sinn.«
    »Ich weiß es nicht, Sid. Am besten, du fragst ihn selbst.«
    »Er hätte nach Frankreich gehen können, dort kannte er sich aus. Oder in den Süden. Da war er noch nie gewesen. Aber in den Osten? Zu den Sowjets?«
    Chip schüttelte den Kopf.
    »Ich versteh das einfach nicht«, sagte ich.
    Chip zuckte die Achseln. »Vielleicht war er Kommunist.«
    »Ah, sind jetzt plötzlich alle , mit denen du zu tun hast, in deinen Augen Kommunisten?«
    Er machte ein dummes Gesicht, denn ihm war wieder eingefallen, was er in dem Dokumentarfilm gesagt hatte.
    Ich schwieg eine Weile, dann sagte ich: »Es ist, als hätte er leiden wollen .«
    »Dafür hätte er nicht extra nach Polen gehen müssen, Sid.«
    »Ich weiß.«
    Chip runzelte die Stirn. »Was ich noch merkwürdiger finde, ist, dass er es geschafft hat. Nach dem Krieg wollten die Polen doch alle Deutschen loshaben. Die haben alles aus ihrem Land rausgeschmissen, was deutsch war, noch vor der Potsdamer Konferenz.«
    »Meine Damen und Herren, darf ich vorstellen: Professor Charles C. Jones, das wandelnde Konversationslexikon.«
    Chip langte in seine Tasche und zog einen dünnen kleinen Reiseführer hervor. »Eins hab ich in meinem Leben gelernt, Sid: Du kannst noch so viel in der Welt rumreisen und dir alles Mögliche ansehen, das ist nichts als Zeitverschwendung, wenn du nichts über die Sachen weißt, die du da besichtigst, wenn du ihre Geschichte nicht kennst.«
    Ich hörte nur mit einem halben Ohr zu. »Vielleicht gehen wir ja von ganz falschen Voraussetzungen aus. Könnte doch sein, dass er erst vor Kurzem nach Polen gezogen ist. Vor einem Jahr oder so. Vielleicht hat er die meiste Zeit woanders gelebt, irgendwo im Westen. Allerdings stellt sich dann die Frage, wieso wir nie was davon gehört haben, dass er überlebt hat.«
    Chip zuckte

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