Spiels noch einmal
»Meinst du, der hat was gegen uns?«
Chip zuckte die Achseln. »Nein, glaub ich nicht. Der hat nur ganz allgemein was gegen Leute.«
»Was ist das hier überhaupt?«, sagte ich. »Irgend so eine sozialistische Landkommune aus der Sowjetzeit?«
»Frag mich was Leichteres. Was immer es mal war, jetzt ist jedenfalls nicht mehr viel davon übrig.«
Über der Tür eines der Gebäude hing ein rotes Schild. Die Schrift darauf war mit einem Schweißbrenner weggesengt worden. »Was stand da wohl drauf?«, fragte ich und deutete in die Richtung.
Chip schaute nicht mal hin. »Keine Ahnung, Mann.«
Ich sagte nichts mehr. Wir waren beide total erschöpft. Der alte Opa und sein Enkel waren verschwunden. Ich drehte mich um und entdeckte sie auf der Straße. Sie gingen in die Richtung, aus der wir gekommen waren, jeder mit einem Sack über der Schulter.
»Wir sind die Letzten.« Irgendwie fühlte ich mich bedrückt.
»Was?«
»Außer uns ist niemand mehr da. Die anderen Leute, die im Bus waren, sind alle weg.«
Chip zuckte die Achseln. »Na und? Meinetwegen kann der Chauffeur auch noch abhauen, solange nur der Bus weiterfährt.«
»Scheiße, Mann. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass die was wissen, was wir nicht wissen.«
»Du meist: Die Ratten verlassen das sinkende Schiff?«
»Nein. Na ja, vielleicht.«
»Ach was, die steigen einfach aus, weil sie da sind, wo sie hinwollten, das ist alles.«
Aber das war nicht alles. Ich konnte es spüren, wenn ich auch keine Erklärung dafür hatte. Wenn man alt wird, lernt man man irgendwann seinen Instinkten zu vertrauen oder zumindest auf sie zu hören. Ich stand auf.
»Ich setze mich mal eine Weile in den Bus«, sagte ich. »Ich will nur ein bisschen Ruhe haben.«
Chip blickte auf. »Soll ich dir was zu essen bestellen?«
»Ich hab jetzt keinen Appetit.«
»Ist gut«, sagte er. »Diese Schnaken hier gehen einem echt auf die Nerven. Ich bestell vorsichtshalber mal was für dich mit.«
Der Bus kam mir irgendwie niedriger vor, länger, schlanker. Ich stieg ein.
Es war, als lenkte eine fremde Kraft meinen Blick, führte meine Hand unter den Sitz, wo das Täschchen stand, das Chip mit in den Bus genommen hatte. Ich zog es hervor, fuhr mit dem Finger über das teure Leder, über die ineinander verschränkten Ls und Vs. Ich öffnete den Reißverschluss.
Ich musste nicht lange suchen: Das Kuvert, mit krakeliger Schrift an Mr Charles C. Jones adressiert, war braun wie Spülwasser. Ich erkannte Hieros Handschrift sofort wieder. Mit zitternden Fingern zog ich den Brief heraus. Das Papier fühlte sich rau an wie frisch geschliffenes Holz. Mein lieber Freund stand oben drüber.
Ich hoffe, dieser Brief schockiert dich nicht allzu sehr. Vielleicht tröstet es dich, wenn ich dir sage, dass er mich selbst wahrscheinlich genauso überrascht hat wie dich. Bis vor Kurzem habe ich nämlich nicht einmal gewusst, dass du noch am Leben bist. Entschuldige bitte, das ist nicht böse gemeint. Letzte Woche habe ich zufällig von einem Falk-Festival erfahren, das dieses Jahr in Berlin stattfinden soll, und dass du dazu eingeladen worden bist. Ich habe dann auch Zeitungsartikel über dich gelesen. Es hat mich gefreut, zu sehen, welch große Karriere du gemacht hast – wir wissen beide, wie schwierig das gerade in deinem Fach ist. Ich gratuliere dir zu deinem anhaltenden Erfolg, zu der Auszeichnung, die du vom Präsidenten erhalten hast, zu deiner Aufnahme in die Hall of Fame. Ich bin so stolz auf dich, wenn ich das sagen darf.
Ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Jetzt, wo ich sehe, dass du wegen des Festivals nach Europa kommst, würde ich mir sehr wünschen, wir könnten, wenn es dir nicht allzu lästig ist, die Gelegenheit benutzen, wieder miteinander in Verbindung zu treten. Wie du an dem Umschlag erkennst, lebe ich ein bisschen abseits der ausgetretenen Wege. Weil ich aus gesundheitlichen Gründen nicht reisen kann, möchte ich dich fragen, ob du es nicht vielleicht einrichten könntest, mich hier zu besuchen. Seit ich erfahren habe, dass du am Leben bist, ist es mein dringender Wunsch, dich wiederzusehen.
Ich warte voller Ungeduld auf deine Antwort.
Herzlich
dein
Thomas Falk (Hiero)
P.S.: Ich wäre dir dankbar, wenn du meine Adresse an niemanden weitergeben würdest. Ich führe ein sehr zurückgezogenes Leben und möchte, dass das so bleibt. Ich könnte es anders nicht ertragen.
Ich saß da, das raue Papier zwischen meinen
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