Spieltage
eine Spritze.
Aber das Essenzielle, dachte Rudi Stenzel nach, war in Nürnberg in der Bundesliga auch nicht anders als in der Kreisliga: die Kameradschaft in der Mannschaft und das Spiel. Er spielte gegen Werder Bremen und den 1. FC Köln genauso, wie er es gegen den TSV Kronwinkl oder die DJK Adlkofen getan hatte, dribbelte aus der Tiefe frontal auf den gegnerischen Verteidiger zu, ein Haken, eine Finte, und wenn er tatsächlich vorbei war, entschied er, ob der Pass zum Mittelstürmer oder ein Dribbling aufs Tor zu die bessere Lösung war. Er entpuppte sich als solider Bundesligaspieler. Wahrscheinlich wäre er immer in der Kreisliga geblieben, wenn nicht zufällig die Spielvereinigung aus dem benachbarten Landshut 1982 in der Amateuroberliga Bayern in Abstiegsnöte geraten wäre und panisch Spieler aus den umliegenden Dörfern anwarb, von denen es hieß, sie könnten vielleicht was. Stenzel wurde sofort Bayernliga-Torschützenkönig.
Entscheidend in der Bundesliga, entdeckte Rudi Stenzel, war eine Gelbe Karte für den gegnerischen Manndecker. Einmal verwarnt, traute sich dieser aus Angst vor dem Platzverweis nicht mehr, so rabiat gegen den Stürmer einzusteigen, die Grätschen von hinten versiegten, bei denen der erste Tritt dem Ball galt und der Verteidiger beim Durchstrecken des Beines noch einen zweiten Treffer auf die Achillessehne des Stürmers setzte. Deutsche Manndecker, fanden die Deutschen, waren die besten der Welt. Niemand blieb so hart am Mann, niemand grätschte so oft, so intensiv, mit so einem guten Gefühl für den richtigen Moment. Nur Dettmar Cramer fragte sich leise, wie sollen wir Fußball spielen, wenn die Verteidiger ständig beim Grätschen am Boden liegen? Aber Dettmar Cramer war auch schon wieder weg, aus Leverkusen weitergezogen nach Japan.
Die Bundesligastürmer reagierten auf die ständigen Grätschen von hinten in den Achtzigern mit Geschrei. Sie begannen, sich mit lautem Schmerzensschrei und gekrümmtem Körper fallen zu lassen, damit der Schiedsrichter das Foul fühlte und die entscheidende Gelbe Karte zückte.
Auf der A9 Nürnberg Richtung München sah es am 21. März 1987 so aus, als würden Heinz Höher und der junge Club niemals alleine gehen. 30000 Nürnberger Fans reisten im selbst verursachten Stau zum Derby gegen den FC Bayern. Tags zuvor war die Mannschaft auf derselben Strecke vorausgefahren. Die hauen wir weg, die Bayern!, rief ein Spieler im Bus, die anderen grölten, und Vorstopper Roland Grahammer schrie: Die hauen wir weg, die Blinden! Sie hatte gerade eine Serie von 10:0 Punkten eingelegt.
Gegen den FC Bayern verloren sie 0:4.
Die Schwankungen der Jugend blieben. Doch über das Auf und Ab der Tagesform hinweg ließ sich eine kontinuierliche Entwicklung erkennen. Aufstieg 1985, Zwölfter 1986, Neunter 1987. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren stellte der 1. FC Nürnberg wieder Nationalspieler, Dieter Eckstein und Stefan Reuter. Ganz auf den eigenen Fortschritt konzentriert, merkte Heinz Höher nicht, wie seine rasant nach vorne spielende Elf die angenehme Ausnahme in einem zunehmend rustikaleren deutschen Spiel wurde.
Deutschland gab sich der Manndeckung hin. Ins Endspiel der Weltmeisterschaft 1986 gegen Argentinien schickte Teamchef Beckenbauer sieben Manndecker. Lothar Matthäus, der ein Spiel antreiben konnte wie kaum jemand, wurde zum Obermanndecker, als persönlicher Schatten Diego Armando Maradonas. »Fußball spielen könnt ihr sowieso nicht«, erklärte Beckenbauer seiner Mannschaft in erschlagender Einfachheit, »also hindert wenigstens die anderen daran.«
Beckenbauer, mit 40 jung im Trainergeschäft, bekämpfte die eigene Überforderung mit spontanen Rundumschlägen. Weltmeister werde seine Elf eh nie, hatte er schon zu Turnierbeginn den Journalisten erklärt, denn in der Bundesliga laufe »sowieso nur noch Schrott rum«.
Die Medien, 140 Mann stark, wohnten während der WM in Mexiko die gesamten sieben Wochen lang mit der Nationalelf im Trainingsquartier Mansión Galinda in Morelia. Der DFB hielt das für eine gute Idee. Sie waren doch im Unterhaltungszeitalter, sie mussten den Medien doch etwas bieten. Das taten Beckenbauer und seine Spieler; wenngleich vielleicht nicht ganz so, wie der DFB sich das vorgestellt hatte. Torwart Toni Schumacher und Kapitän Karlheinz Rummenigge duellierten sich öffentlich, wer der Schönste im Land sei, aus den Hotelzimmern einiger Nationalspieler flogen Prostituierte nach getaner Arbeit im hohen Bogen hinaus, und die
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