Spieltage
Höher, aber du bist einen Tag und zwei Stunden zu spät.
Rahn war am Dienstag statt wie angekündigt am Montag erschienen.
Heinz Höher hatte noch ein Bild vom Boss aus dem Vorjahr im Kopf. Im Hotel Angermund lag er vor dem Heimspiel gegen den 1. FC Köln mit Rahn und Eia Krämer auf einem Zimmer. Plötzlich wachte er auf, weil der Trainer im Raum stand und herumschrie, anziehen und raus aus dem Hotel, ihr Schweine gehört nicht mehr zur Mannschaft!
Unter Rahns Bett lag eine ganze Batterie Bierflaschen, die der Boss und Krämer noch zu verstecken versucht hatten, als Gutendorf gegen die Tür hämmerte. Der Trainer hatte sie reden und lachen gehört.
Die Mannschaft sprach für die drei Spieler vor. Der Trainer möge sie doch bitte begnadigen. Und Gutendorfs Angst vor Niederlagen war größer als sein Erziehungsgeist. Er brauchte Rahn und Krämer. Sie spielten gegen Köln und halfen ein wertvolles 2:2 zu ergattern. Nur Heinz Höher fand, wie vorgesehen, nicht in die Elf. Dabei hatte er als Einziger tatsächlich nichts getrunken, sondern geschlafen. Er trank nie vor Spielen. Allenfalls von Samstagnacht bis Mittwochabend.
Damals hatte sich Heinz Höher innerlich von seiner Mannschaft gelöst. Während der MSV hoch flog, litt er alleine an seinem Platz im Abseits. Im zweiten Jahr war die Gefühlswelt von Mannschaft und Höher wieder im Einklang, vereint im Leiden. Sie dümpelten im Mittelfeld der Tabelle herum. In der Misere veränderte sich schleichend ihr Bild vom Trainer, der sie, leck mich am Arsch, mit seiner Weltläufigkeit und neuen Methodik doch so beeindruckt hatte.
Gutendorfs Autorität schwand am Tag, nachdem John F. Kennedy gestorben war. Am Morgen nach dem 22. November 1963 saßen die Spieler im Frühstückssaal des Hotel Angermund, das Heimspiel gegen Borussia Dortmund stand an, und alle redeten durcheinander. Kann der Wirt nicht einmal das Radio einschalten, hat man den Attentäter gefasst, ob das die Russen waren, ihr werdet sehen, jetzt wird es wieder Krieg geben, lass mich endlich auch mal in die Zeitung schauen.
Rudi Gutendorf betrat den Frühstückssaal mit Jacke und Schal und sagte, er sei in aller Früh schon im Stadion gewesen, um den Boden zu testen. Sie sollten lange Stollen unter die Fußballstiefel schrauben.
Jeder der Spieler, bestätigten sie einander später, habe gleich gemerkt, dass das nicht stimmte, dass Gutendorf sicher wieder bei einer Frau übernachtet hatte.
Er log sie an. Ihre Bereitschaft sank, ihm alles zu glauben.
Von außen erfuhr Gutendorf im zweiten Jahr trotz der schwindenden Siege weiterhin Anerkennung für das neuartige Spiel, dass er mit Meiderich aufzog. »Das ist moderner Fußball«, pries Herberger das überfallartige Umschalten von geballter Abwehr auf stechenden Angriff.
»Wir müssen das oder aus dem Fußballlexikon streichen«, hatte Herberger als einer der Ersten gefordert: »Ein Spieler darf nicht mehr Stürmer oder Verteidiger sein, sondern Stürmer und Verteidiger.« Die Solidarität, mit der Meiderichs Stürmer verteidigten und Verteidiger stürmten, schien ihm ein Weg. Meiderichs Spieler widersprachen dem nicht. Sie glaubten nur nicht, dass Gutendorf allzu viel für ihre fortschrittliche Spielweise konnte.
Stürmen und verteidigen, das hatten sie sich im Training unter Gutendorfs Vorgänger Willi Multhaup selbst beigebracht. Vordergründig machte Multhaup nichts, als sie spielen zu lassen, während er mit den Rentnern ein Schwätzchen hielt. Doch im von allen Zwängen freien Trainingsspiel eigneten sie sich unbewusst die Automatismen an, ihre Position freizügiger zu interpretieren; zu verteidigen und anzugreifen.
Gutendorf half dieser rollenden Spielweise sicher nach, indem er etwa in Hartmut Heidemann und Johann Sabath gelernte Flügelstürmer zu Außenverteidigern machte. Die Spieler wollten bloß immer weniger von den Verdiensten des Trainers wahrhaben nach dem Tag, als John F. Kennedy starb.
Gutendorf selbst sah in den taktischen Kniffen nur einen kleinen Teil seiner Leistung. Was ein Trainer vor allem schaffen musste, fand Gutendorf, war eine Atmosphäre, eine kriegerische, absolut überzeugte Siegesstimmung. Oft erlebten die Spieler ihn vor Bundesligapartien nachdenklich und vernunftgesteuert, dann verschwand er kurz auf der Toilette, und wenig später redete er wie ein Maschinengewehr, verweigert dem Gegner den Handschlag, schaut die grimmig an, haut die weg!
Bist du nicht gut drauf?, fragte er seine Spieler bisweilen, dann nimm mal das.
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