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Spieltage

Spieltage

Titel: Spieltage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Reng
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lieblich, witzig in seinen Antworten und sagte, anders als sie, auch nicht immer pampig Nein, wenn die Eltern etwas von ihm wollten.
    Mehrmals hatte ihr die Mutter auf der Straße Ohrfeigen verpasst. Kinder verlangen nach Ohrfeigen, sagte die Mutter. Und sie hatte recht, dachte Hilla. Trotz der Blamage, auf der Straße geohrfeigt zu werden, lehnte sie sich immer wieder gegen jeden Satz, jede Anweisung der Mutter auf. Sie konnte nicht anders. Sie war 13, 14. In ihren Augen war alles an der Mutter falsch. Die Mutter war so alt. Wie sie sich schon kleidete, mit den Gummistrumpfhosen gegen Krampfadern, den Gesundheitsschuhen, dem Kopftuch und dann die Dauerwelle. Und welch lächerliche Sachen sie machte. Die Mutter ging in Atemtechnikkurse, in Rhetorikkurse, jede Veranstaltung, die die Kirchengemeinde anbot, besuchte sie. Sonntags nach der Morgenmesse brachte sie zum Verdruss des Vaters gelegentlich Obdachlose mit nach Hause, um ihnen zu essen zu geben.
    Beharrlich berichtete die Mutter am Tisch von ihren Kursen, führte die neuen Atemtechniken vor, obwohl sie wusste, es würden wieder alle über sie lachen. Heinz lachte mit. Er verehrte die Mutter still.
    Einmal stand sie plötzlich im Nachthemd vor ihm und Hilla, mitten am Tag. Seid doch still, sagte sie vorwurfsvoll, aber leise. Vater braucht doch seinen Mittagsschlaf. Dass sie etwas brauchte, sagte sie nie.
    Hilla und Heinz vertrieben sich die Zeit gerne damit, sich zu zanken. Er pfiff ein Lied. Hör auf damit, du pfeifst so falsch, sagte Hilla. Er pfiff noch lauter, noch falscher. Freitags durften sie die Hörzu vom Kiosk holen. Es war das Wichtigste, dass er vor Hilla mit den 50 Pfennig der Mutter zum Kiosk kam und sich dann genüsslich vor der Schwester auf den Sessel setzen und den Fortsetzungsroman Suchkind 312 lesen konnte. Einmal bat Hilla Onkel Paul, ihr 50 Pfennig zu schenken. Sie kaufte sich ihre eigene Hörzu. Heinz kochte. Das Lesen des Fortsetzungsromans machte nur noch halb so viel Spaß, wenn Hilla ihm gegenübersaß und ihre eigene Illustrierte las, auf einmal nicht mehr abhängig von ihm, dem Herrn über die Hörzu.
    Seinen Freunden gefiel die kleine Schwester. Das machte es nur schlimmer. Die Knabenschule und die Mädchenschule lagen nebeneinander in der Schulstraße, und Hilla durfte regelmäßig in die geheimnisvolle Welt der Jungen hinübergehen, um den gemeinsamen Atlas von ihrem Bruder zu holen. Heinzchen, deine Schwester kommt!, riefen seine Freunde. Verschwinde!, zischte er, während er ihr den Atlas in die Hand drückte. Sein Zischen war die Musik für ihren Triumphmarsch aus der Klasse hinaus.
    Irgendwann war der letzte Kriegsschutt weggeräumt, aber das hatte keine Bedeutung, denn dann waren auch sie zu alt geworden, um noch im Schutt zu spielen. Die Fußbälle bei den Schlachten auf der Schulstraße, jeden Tag von drei bis zur Dunkelheit, waren echte Lederbälle, nicht mehr aus alten Strumpfsocken geknotete Kugeln. Gelegentlich kam Onkel Hans zu Besuch. Dann erzählte er, wie es im Konzentrationslager gewesen war, wo er wegen politischen Widerstands eingesessen hatte, aber wenn er wieder mit den Geschichten anfing, ging Opa Hermanns raus, er ertrug das nicht, und die Kinder sollten auch raus.
    Onkel Hans besuchte sie, weil er Geld brauchte. Er lieh sich 50 Mark und verlor davon gleich wieder 20 im Skat an Heinz und Opa Hermanns. Wahre Ereignisse, und zwar für ganz Leverkusen, waren jedoch die Besuche von Onkel Willi und Tante Minna. Sie kamen aus Amerika. In den Zwanzigern war Onkel Willi ausgewandert. Regelmäßig kam er nach Leverkusen zurück, um den ehemaligen Mitbürgern zu zeigen, wozu er es gebracht hatte im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Onkel Willi ließ seinen riesigen hellblauen Buick auf dem Überseedampfer einschiffen, damit die Leverkusener einmal ein richtiges Auto sehen konnten. Der Buick blitzte und strahlte, wie er auf der Hauptstraße stand und die gesamte Straßenbreite einzunehmen schien. Wie das Auto glitzerte auch Tante Minna, behangen mit Ringen und Ketten. Aus dem Kofferraum hob Onkel Willi unzählige Koffer und Hutschachteln. Wenn Hilla die Geschenke, die schönen, leuchtend bunten Kleider aus Amerika, anprobierte, schämte sie sich. Wie grau dagegen sie in Leverkusen herumliefen.
    Aber auch dort wurden die Farbtupfer immer kräftiger. In der Hauptstraße eröffnete die Eisdiele Santin. Viele Italiener kamen nun nach Deutschland zur Arbeit, erklärte der Leverkusener Anzeiger, sie seien Deutschlands

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