Spieltage
Gäste. Die Jugendlichen schwirrten um die Eisdiele. Sie wollten die Töchter des Eismachers aus dem Val di Zoldo sehen, Antonietta und Laura. Hilla ging ganz nah heran, um die langen Wimpern und die dünnen Sandalen zu bestaunen. Alle Jungen waren in Antonietta und Laura verliebt. Nur Heinz Höher nicht. Wenn alle vom selben schwärmten oder dasselbe machten, war das seine Sache nicht.
Als Heinz Höher im Frühling 1964 frisch verheiratet in seine Kindheitswohnung in der Hauptstraße 110 zurückkehrte, erinnerte er sich an etwas. Freitags ging er zum Kiosk gegenüber und kaufte sich die Hörzu.
Immer noch die Sechziger
Kalt
Samstagnachmittags wurde Heinz Höher zum Fernsehreporter im eigenen Wohnzimmer. Er drehte den Ton der Sportschau ab und kommentierte die Spielberichte aus der Bundesliga in das Mikrofon eines alten Tonbandgeräts. Er suchte eine Beschäftigung, um sich von der eigenen Traurigkeit abzulenken. Es war Frühling geworden, 1964, und er fand partout keinen Platz mehr in der Elf des Meidericher SV, die seit Wochen schon kein Spiel mehr verloren hatte.
Jeden Freitag wieder stellte sich die Frage, Höher oder Gecks, Höher oder Kubek, Höher oder Walenciak, und jeden Freitag wieder wurde ihm ein anderer vorgezogen. Rudi Gutendorf, der nicht nur Frauen, sondern alle Menschen liebte, schmerzte es, Höher wehzutun. Aber das Mitgefühl des Trainers nahm Heinz Höher nicht an. In schweren Situationen wurde er kalt. Er war immer stolz darauf gewesen.
Jetzt machen wir es bei dieser elenden Entscheidung, welcher Spieler mit darf, welcher zu Hause bleibt, einmal anders, sagte Gutendorf eines Tages. Er ließ die Verteidiger Dieter Danzberg und Hans Cichy zum Weitschussduell von der Strafraumgrenze antreten. Danzberg trat den Ball fast fünfzig Meter weit, Cichy gut fünf Meter weniger. Danzberg fuhr zum Spiel, Cichy nicht.
Das war moderne Sportpsychologie, wusste Gutendorf: ein sichtbarer Konkurrenzkampf, verbunden mit ein bisschen Spaß für die gesamte Mannschaft. Und überhaupt, gelegentlich musste ein Klassetrainer einfach einmal etwas Verrücktes machen.
Die erste Bundesligasaison näherte sich dem Ende, und überall wurde fleißig Bilanz gezogen. »Es ist schon überraschend, wie schwach die süddeutschen Vereine auf der Brust sind«, hatte der Fußballjournalist Hans Schiefele früh im Jahr in der Süddeutschen Zeitung geklagt. »Liegt es an der Spielweise, am System? Die Eigenart des süddeutschen Fußballs, seine Verspieltheit und oftmals Umständlichkeit, haben sich in der Bundesliga als wenig zweckmäßig erwiesen.« Mit einem starken Schlussspurt vertuschten Eintracht Frankfurt als Dritter und der VfB Stuttgart als Fünfter den Eindruck des kränkelnden Südens zumindest ein wenig. Doch die Essenz von Schiefeles Klage blieb: Nach einem Jahr mit einer bundesweiten Liga betrachtete man sich in Hamburg und München, in Dortmund und Kaiserslautern weiterhin gegenseitig als fußballerisches Ausland mit eigenen Stilen und Ideen, der verspielte Süden, der nüchtern taktierende Norden, der kämpferische Westen. Gutendorfs Meiderich war ein Land für sich. Der MSV mit seinem Riegel und den überfallartigen Angriffen war für die Gegner nicht zu fassen. Er nervte alle, manchmal auch die eigenen Fans.
Am letzten Spieltag kamen nur 15000 Zuschauer ins Wedaustadion in Duisburg. Sie murrten und pfiffen bis zur 60. Minute auf die eigene, wieder einmal in der Defensive stehende Mannschaft – die gerade auf dem besten Weg war, unglaublicher Zweiter der Bundesliga hinter dem Meister 1. FC Köln zu werden.
Doch niemand ändert seine Meinung schneller als ein Fußballpublikum. Nach dem Meidericher 3:0-Sieg über den 1. FC Kaiserslautern stürmten die eben noch pfeifenden Zuschauer auf das Spielfeld, um die mit Bettlaken und Bambusstangen selbst gefertigten MSV-Fahnen zu schwingen und den Bundesliga-Zweiten hochleben zu lassen. Die Walsumer Bergwerkskapelle spielte zum Triumphmarsch auf.
Heinz Höher stand strahlend zwischen den Zuschauern, von denen nicht mehr allzu viele Anzug, Krawatte und Hut trugen, sondern Pullover und Blousonjacken. Die abschließenden beiden Spiele hatte Höher wieder bestreiten dürfen. Doch sein eigenes Strahlen wollte er nicht lange im Kopf behalten. Ebenso verdrängte er schnell, dass es ein Festessen im Duisburger Hof gab. Er sei nach dem Sieg gegen Kaiserslautern bloß mit Horst Gecks zwei Bier und einen Klaren trinken gegangen, niemand erkannte sie in dem Lokal, niemand sprach
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