Spieltage
sie an, und dann sei er nach Hause gefahren, behauptet Heinz Höher. Als wolle er sich nachträglich jede Freude verbieten nach einer Saison, die er in erster Linie mit seinem persönlichen Schattendasein verbindet.
Mit ihrem sensationellen zweiten Platz hatten sie sich keinen Gefallen getan, mussten die Spieler des Meidericher SV im zweiten Jahr feststellen. Sie wurden an dem fabelhaften Erfolg gemessen. Und diesen Vergleich mit der eigenen glorreichen Vergangenheit konnten sie nur verlieren. Die Pfiffe wurden ihre Begleiter.
Heinz Höher war mal im Team, öfter aber draußen. Eia Krämer, der erste aufgehende Stern der Bundesliga, kam wochenlang nur sporadisch zum Training. Er war beschäftigt, ein Haus in Meiderich zu bauen. Gutendorf ließ ihn gewähren. Ziegelsteine schleppen, mauern, streichen war letztendlich auch eine Form von Training. Der Trainer selbst stritt mit dem neuen Vereinsvorsitzenden Wilhelm Tiefenbach aus der Hockey-Abteilung über die 30000-Mark-Prämie für den zweiten Rang. Das war doch nur ein Witz gewesen, eine Klausel auf einer Speisekarte!, wehrte sich Tiefenbach.
Zur Mannschaft gehörte seit Saisonbeginn ein brasilianischer Fußballer, der erste Brasilianer der Bundesliga, Raoul Tagliari, aus dem Land des Doppelweltmeisters von 1958 und 1962, der Heimat von Spiellust und Brillanz. Zu Beginn hatten nur fünf Ausländer in der Bundesliga gespielt, zwei Jugoslawen, ein Österreicher, ein Türke, ein Holländer. Fußballer aus dem Ausland zu locken war übertrieben, das taten nur die fanatischen Südeuropäer, fanden die Deutschen. Und nun, auf einmal, ein Brasilianer. Aber leider war dies Tagliaris auffälligste Qualität: Brasilianer zu sein. Er absolvierte nur neun Bundesligaspiele. Er habe den Tagliari auch nicht geholt, sagte Gutendorf, der stand halt irgendwann da am Trainingsplatz.
Es war keine Zeit mehr für Heilande in Meiderich. Helmut Rahn humpelte nur noch. Die Achillessehne war chronisch entzündet. Er konnte der Mannschaft einzig noch als Autohändler helfen. Er beschaffte Werner Kubek innerhalb einer Woche einen Opel Coupé, obwohl die Lieferzeit ein halbes Jahr betrug. Auch Heinz Höher bestellte einen Wagen beim Boss.
Am Montag um zehn wollte Rahn in Leverkusen das Auto vorbeibringen. Doris Höher war nervös. Ob dem Weltmeister ihr Kaffee schmeckte? Hoffentlich schrie der Kleine nicht die ganze Zeit.
Markus hatten sie ihren Sohn getauft. Die Geburt war nicht so einfach gewesen, die Sauerstoffversorgung des Kleinen schien einen Moment gefährdet, Heinz Höher kannte es nur aus den Schilderungen seiner Frau, er war selbstverständlich bei der Geburt nicht dabei gewesen. Am zweiten Tag durften die Väter die Geburtsstation besuchen, die Krankenschwester hielt ein Baby aus einem Brutkasten hoch, und dann sollten sie bitte schön wieder gehen.
Doris hatte ihren Beruf aufgegeben, so wie Heinz’ Schwester Hilla mit der Geburt ihres ersten Kindes das Lehramtsstudium abgebrochen hatte. Es sollte zwar Rabenmütter geben, die ihre Arbeit trotz Kindern wieder aufnahmen, aber Doris und Hilla kannten keine. Im Bürgerlichen Gesetzbuch der Bundesrepublik stand unter Paragraf 1356: »Die Hausfrau führt den Haushalt in eigener Verantwortung. Sie ist berechtigt, erwerbstätig zu sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist.«
Für Heinz Höher änderte sich nichts an seinem Leben. Mal abgesehen davon, dass nun ein Kinderwagen dabei war, wenn er mit Doris spazieren ging, und er den Wagen sogar oftmals schob, so empört manche ältere Spaziergänger dann auch schauten. Nach dem Training blieb er weiterhin gerne auf zwei Bier und einen Klaren in Duisburg. Er ging abends zum Skatspielen ins Krahne oder blieb bei Doris und Markus. Das alles entschied er spontan und ohne Rücksprache mit seiner Frau. Er hätte nicht gewusst, wie es anders sein sollte.
Manchmal fragte sich Doris, ob es wirklich so toll war, dass er alles mit sich selbst ausmachte, dass er so wenig über seine Gedanken und Träume sprach. Aber dann sagte sie sich, was sie denn wolle. Sie hatte eine Familie mit einem verwegen schönen, großzügigen Mann, sie war eine Hausfrau in einer adretten Wohnung zu Hause in Leverkusen, die nicht auf jeden Pfennig achten musste. Sie hatte alles, was sie immer gewollt hatte. Ein ganz normales Leben. Und wenn nun auch noch Helmut Rahn endlich käme.
Er kam um zwölf.
Man wird doch mal zwei Stunden zu spät kommen können, sagte der Boss.
Ja, sagte Heinz
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