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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman
Autoren: Juli Zeh
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mich umgedreht.
    Die kalte Sophie konnte nicht ausschließen, dass Ada diesem Syndrom unterlag, und hätte in jeder anderen Situation längst begonnen, an einer geeigneten Fangfrage zu arbeiten. Jetzt aber lähmte sie der Eindruck, dass es nicht darauf ankomme, ob sie Ada glaubte oder nicht. Die Aussage war widerspruchsfrei, und außer Ada würde niemand sonst die Ereignisse schildern - den Angeklagten war anzusehen, dass sie bei ihrem Schweigen bleiben wollten. Der bloße Gedanke an Wahrheitssuche ermüdete die kalte Sophie bis an die Grenze einer krankhaften Apathie. Sie wollte einfach zuhören und darauf warten, wie die Geschichte ausgegangen war. Hätte sie in diesem Augenblick mehr Zeit zum Nachdenken gehabt, wäre sie auf einer Abkürzung zu der Einsicht gelangt, die sich nun erst am Ende einer durchgrübelten Nacht offenbaren würde: Wirklichkeit war ein anderes Wort für das, woran Zeugen sich erinnern. Wahrheit war nichts, das man wissen konnte, sondern etwas, an das man glauben musste, und unter Menschen, die ihre Glaubensfähigkeit verloren hatten, gab es keine Wahrheit mehr. Ohne Wahrheit kein Urteil.
    Ada hatte ihre Gliederung neu sortiert und wartete auf ein Zeichen, dass sie weitersprechen sollte. Die kalte Sophie nickte ihr zu.
    »Unser Gerangel endete zwanzig Meter und zwei Schiebetüren weiter auf dem Mattenstapel im Geräteraum. Ich lag auf dem Rücken, mit dem Kopf den schmalen Fenstern zugekehrt. Herr Smutek war nicht der erste Gast in meinem Unterleib. Ich hatte keine Angst. Mir tat nichts weh. Es bereitete mir kein Vergnügen. Ich erlebte mit Interesse, wie Herr Smutek den Geschlechtsakt auf Erwachsenenart an mir vollzog, mit der Selbstsicherheit eines Mannes, der das oder Ähnliches schon Hunderte, wenn nicht Tausende Male im Leben getan hat. Im nächsten für Sie bedeutsamen Moment tauchte eine kleine silberne Kamera auf. Ich spürte Herrn Smuteks Stocken gerade in der Sekunde, als ihm Erlösung bevorstand. Ich versuchte, mich unter ihm aufzurichten, und bemerkte eine schnelle Bewegung wie von einem flüchtenden Tier, einem Marder vielleicht, der beim Abfressen von Bremsleitungen aufgescheucht wird. Hakenschlagend floh etwas um Gymnastikkästen, Schwebebalken und Recks herum. Das war Herr El Qamar, der mit seinen Photos das Weite suchte.«
    Dieses Mal hob Ada den Kopf und bedachte Alev mit einem Blick, in dem sich Anklage und Verzeihung wohldosiert miteinander mischten. Du Turnhallen-Dieb. Du Spanner. Du Verräter und Erpresser. Du hast uns alle ins Unglück gestürzt, und doch kann ich nicht aufhören, dir gut zu sein. Sie belegte seine Stirn mit einem zweiten Zeichen, markierte Alev als Bauernopfer, als Märtyrer, als gefallenen Engel. Bei genauem Hinsehen wäre noch eine weitere Botschaft aus ihrem Augenaufschlag herauszulesen gewesen: Einst liebte ich dich, und du hast mich um dich selbst betrogen. - Aber was ist eine Botschaft, die niemand empfängt?
    Die kalte Sophie hatte sich vorgebeugt, bis ihr Oberkörper fast auf dem Richterpult lag. Sie schloss die Finger um die hintere Tischkante und schaute Alev mit der sturen Aufdringlichkeit eines Tieres ins Gesicht. Sprechen Sie nur. Sagen Sie was dazu. Wir hören Sie an. Aber er schwieg. Adas Darstellung würde die Einzige bleiben, das lag in der Natur der Sache. Ein kleines Lächeln spielte um Alevs gequälten Mund. Er ließ sich in den Stuhl zurücksinken, scheuchte den Mund seines Verteidigers wie eine lästige Fliege vom Ohr und erwiderte abwechselnd Adas Blick und den der kalten Sophie. Das Aufrichten, Durchatmen und Achselzucken im Raum prägte einen gestischen Aphorismus: Vor Gericht bekommt jeder, was er will, und danach ist noch eine Menge für den nächsten Kandidaten übrig. Der Moment einer stummen Abrechnung ging vorüber, wie noch jeder einzelne Moment seit Menschengedenken, sei er noch so grausam oder schön, widerstandslos vergangen ist.
    Was Ada noch zu sagen weiß
    N ach meiner in aller Hast erworbenen Kenntnis des deutschen Strafrechtssystems ist die innere Verfasstheit von Tätern und Opfern ausschlaggebend für die Beurteilung eines Falls. Und da ist er schon wieder: Der Fall! Das Recht strotzt vor seltsamen Wörtern. Ich könnte >Verfahren< sagen. Aber Verfahren bezeichnet eine Situation, in der ich mit einem unhandlichen Stadtplan über den Knien im Auto sitze, während Mutter oder Stiefvater mit zusammengekniffenen Augen die Straßenschilder auf der anderen Seite der Kreuzung zu lesen versuchen. Wir könnten uns
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