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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Raum warf und seine Sporttasche auf dem Tisch erkannte, freute ich mich. Offensichtlich hielt er eine Vertretungsstunde bei der Volleyballmannschaft ab. Wir waren Sparringspartner, sogar Freunde. Er würde es mir durchgehen lassen, wenn ich seinen Vorrat an Eiweißriegeln verzehrte. Mundraub, will ich hoffen?«
    Die letzten Worte klangen dreist. Schon bei den Bemerkungen über die letztverbliebene Instanz war der Staatsanwalt aus seinen Meditationen erwacht und hatte angefangen, den Kopf von einer Seite zur anderen zu wenden wie bei einem Tennisturnier. Die kalte Sophie lachte nicht, fluchte nicht und drohte nicht mit dem Instrumentarium ihrer Sanktionspalette. Mit priesterlich ausgestreckter Hand gebot sie dem Rechtsbeistand von Herrn El Qamar Einhalt, der auf seinem Stuhl herumrutschte, seit klar war, in welche Richtung die Zeugenaussage zielte. Der Staatsanwalt überlegte, ob es Grund gab, einen Befangenheitsantrag zu stellen, und vergaß den Gedanken wieder, weil es spannend wurde. Unauffällig hatte Ada drei Karteikarten nebeneinander auf dem Zeugenpult angeordnet.
    »Als Herr Smutek die Sportgruppe verabschiedet hatte und die Umkleide betrat, saß ich in ein Handtuch gewickelt auf seinem Stuhl und rauchte eine Zigarette. Er brauchte eine Weile, um den Schreck zu überwinden. Dann sprachen wir von Herrn Höfling. Damit Sie das Folgende verstehen können, muss ich Ihnen mitteilen, dass Herr Smutek niemals eine Respektsperson für mich gewesen ist. In Geistesfragen hielt ich mich schon immer für ihm weit überlegen, und als ich merkte, dass er Trost bei mir suchte, vollzog sich ein endgültiger Rollentausch. Vielleicht haben Sie selbst einmal im Auto hinter Ihren Eltern gesessen, als ein frecher BMW-Fahrer die einzige Parklücke in der Innenstadt wegschnappte, auf die Ihr Vater am Steuer so höflich gewartet hatte. Vielleicht haben Sie die Bestürzung, ja Verzweiflung Ihrer Eltern über eine Welt erlebt, von der die alternde Menschheit glaubt, sie sei in ständiger Beschleunigung begriffen. Entsetzt sahen Sie zu, wie Ihre Eltern zum Kind wurden und Sie selbst zur Mutter, wie Sie trösten mussten, ist doch nicht schlimm, Papa, nicht weinen, Mama, bis Sie schließlich gemeinsam in die Tiefgarage rollten wie in ein Familiengrab. Dieses Gefühl empfand ich Herrn Smutek gegenüber, als er mich mit flatternden Augenlidern fragte, wie mit dem Verschwinden eines Menschen umzugehen sei, der doch als Einziger auf Ernst-Bloch den Kopf stets über der Wasseroberfläche getragen habe. Es war an der Zeit, ihn in die Arme zu nehmen. Er wehrte sich mit Händen und Füßen. So ein Handtuch ist dünn, und auch Sporthose und Boxershorts bieten wenig Schutz. Über die Härte in seiner Körpermitte bestand während unseres kleinen Ringkampfs kein Zweifel; bezüglich der Einzelheiten appelliere ich an Ihre Phantasie. Falls Sie fragen wollen, ob ich in ihn verliebt gewesen sei - die Antwort ist nein. Ob er mich körperlich angezogen habe - ebenfalls nein. Ich war einfach sicher, das Richtige zu tun. Ich legte die Kleider ab und sprang ins kalte Wasser, wie ich es wenige Monate zuvor für seine Frau getan hatte. Und er gehorchte meinen Befehlen, wie auch seine Frau mir gehorcht hat.«
    Die anschließende Kunstpause nutzte die kalte Sophie, um die Reaktionen ihrer Schäfchen zu überprüfen. Alev lächelte zufrieden mit geschlossenen Lippen. Smutek schaute auf seine Hände, die reglos wie Gegenstände vor ihm lagen. Ada hatte den Kopf gesenkt und gab ein Bild starker innerer Bewegung ab, während sie in Wahrheit den Inhalt der nächsten Karteikarte studierte.
    Die kalte Sophie rief sich ins Bewusstsein, dass beim öffentlichen Reden die gelungene Form auf die Wahrheit des Inhalts zurückwirkte, oder dass, anders gesprochen, die meisten Zeugen beim Lügen glaubten, was sie erzählten. In dem Maße, wie ein Redner sich selbst überzeugte, veränderte sich die Welt unter seinem Pinselstrich. Am Ende konnte ein derart kreativer Akt kaum noch als Lüge bezeichnet werden, weil sonst die Erschaf-fung der Welt selbst eine Lüge gewesen wäre. Jeder Richter kannte das Knallzeugensyndrom. Ein Zeuge schildert einen Unfallhergang bis in die letzte Einzelheit, kann sich an den Blickkontakt zwischen den beteiligten Fahrern erinnern und ist absolut sicher, dass der Angeklagte vergessen habe, den Blinker zu setzen. Auf die Frage, wodurch seine Aufmerksamkeit auf das Geschehen gelenkt worden sei, antwortet er in heiligem Ernst: Als es knallte, habe ich

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