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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Zeit, das Hoffen zu lernen. Er begann zu hoffen, dass Ada, auf welche Weise auch immer, ihr Versprechen einlösen würde. Sie hatte den Überraschungseffekt und gute Kenntnisse des Geländes auf ihrer Seite. Aber es würden für den gesamten Feldzug nur wenige Minuten zur Verfügung stehen.
    Der Brigadegeneral war glücklich gewesen, ihr einen Gefallen tun zu können, hatte die Telefonnummer eines anerkannten Bonner Strafrechtlers genannt und gebeten, sich um das Beratungshonorar keine Sorgen zu machen. Ada hatte sofort angerufen und ein Problem geschildert, das in der Laufbahn des Experten bislang nicht vorgekommen war. Eine Zeugin wollte ein Plädoyer halten. Für gewöhnlich sagten Zeugen aus, wurden vernommen und leisteten einen Eid, während Plädoyers zum Aufgabenbereich der Staatsanwälte und Verteidiger gehörten.
    Das wusste Ada bereits. Ob man ihr gestatten werde, im Zeugenstand eine vorgefertigte Aussage vom Blatt zu lesen?
    Mit Sicherheit nicht. Notizen zur Stützung des Gedächtnisses waren erlaubt, das Rederecht blieb jedoch auf die Beantwortung gestellter Fragen begrenzt. Der Strafrechtler schlug vor, einen Deal zu versuchen: Gegen Einräumung von zwanzig Minuten freier Sprechzeit würde Ada davon absehen, ihr Verlöbnis mit Herrn El Qamar bekannt zu geben und sich auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht zu berufen. Nachdem er den Namen der erkennenden Richterin in Erfahrung gebracht hatte, zog er diesen Vorschlag zurück.
    »Bei uns heißt es: Vergiss Strategie bei der kalten Sophie«, sagte er am Telefon. »Sie dealt nicht.« Ada dankte und legte auf.
    Am Tag der Verhandlung war sie vorbereitet. Als die Stimme der kalten Sophie die Membranen der Lautsprecheranlage mit Raureif überzog, erhob sie sich von der geschnitzten Holzbank, warf Olaf, der unglücklich neben den Aschenbechern saß und Odettas Hand nicht loslassen wollte, einen nichtssagenden Blick zu, und betrat den Gerichts saal zum zweiten Mal. In Händen trug sie einen Stapel Karteikarten. Ihr Konzept war nach einem Baukastensystem aufgebaut, dessen Teile frei gegeneinander getauscht werden konnten, so dass sie hoffte, nach jeder Einmischung, jeder Unterbrechung und jeder neuen Frage den Einstieg an anderer Stelle wiederzufinden. Sie war entschlossen, so lang und so viel zu sprechen, wie es sich unter Vermeidung eines Ordnungsgeldes einrichten ließ.
    Niemand im Saal schaute sie an. Alle kritzelten in ihren Unterlagen oder sahen zu Boden, wie eine Gruppe Schüler, die etwas vor dem eintretenden Lehrer zu verbergen hat. Wenn die Wolkendecke aufriss, schien eine zaghafte Julisonne herein und raubte den eingeschalteten Neonröhren unter der Decke alle Eigenschaften des Lichts. Geräusche von der Straße drängten sich auf, wellenförmiges Motorengeräusch, kauderwelschende Passantengespräche, das metallene Schreien einer Straßenbahn. Für den nächsten Tag waren verheerende Unwetter angekündigt, sintflutartiger Regen, sturmstarke Böen. Die Menschen hatten aufgehört, die apokalyptischen Gewitter dieses Jahres zu zählen. Das Wetter, sagten sie, spielt verrückt. Im Juni hatte eine Windhose in Ostdeutschland ein halbes Dorf davongetragen. Schließlich hob die kalte Sophie den Kopf: »Fangen Sie bei dem an, was Sie für den Anfang halten.«
    Nichts leichter als das. Ada schob ihre Karteikarten zu einem sauberen Quader zusammen und tat wie befohlen.
    »In jenem Augenblick, den der Scheinwerfer dieser Verhandlung ins Licht taucht, war ich vierzehn Jahre alt, blond und kräftig gebaut. Ich wurde im Sommer 2002 in die zehnte Klasse auf Ernst-Bloch eingeschult, nachdem ich aus einem Grund, der hier nichts zur Sache tut, mein vorheriges Gymnasium hatte verlassen müssen. Auf Ernst-Bloch erregte ich zu Anfang wenig Aufmerksamkeit. Ich sah älter aus, als ich war. Auf die neue Schule hatte ich mich gefreut. Nach den Sommerferien aber fand ich mich in einer Klasse zwischen fünfundzwanzig Leuten wieder, die mich nicht das Geringste angingen, und spürte sofort, dass alles beim Alten geblieben war. Vielleicht neige ich dazu, nicht nur auf das falsche, sondern auf nichtexistente Pferde zu setzen und mich später zu wundern, dass ich weder gewonnen noch verloren habe.«
    Während Ada sprach, traten die Geräusche von draußen in den Hintergrund und kehrten zurück, wenn sie eine Pause einlegte, damit das Tastenklappern der Urkundsbeamtin die eben ver-klungenen Worte einholen konnte. Trotz der novemberartigen Kälte war es heiß im Raum. Der Vertreter der

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