Spillover
ist ein entscheidendes Stichwort, und es reicht tiefer, als es zunächst den Anschein hat. Ich habe es auch von einigen anderen Wissenschaftlern gehört, die sich mit Krankheiten beschäftigen. Entscheidend ist es, weil es den Zufallscharakter des ganzen Vorganges widerspiegelt. Ohne diesen Begriff würden wir die Phänomene der neuen Infektionskrankheiten möglicherweise romantisieren und uns vormachen, die neuen Viren würden Menschen gewissermaßen mit Absicht angreifen. (Eine solche Form der romantisierenden Betrachtung ist das Geschwätz von der »Rache des Regenwaldes«. 123 Natürlich ist das eine hübsche Metapher, aber allzu ernst sollte man sie nicht nehmen.) Epstein spielt damit auf zwei verschiedene, aber zusammenhängende Dimensionen der zoonotischen Übertragung an: Ökologie und Evolution. Störung von Lebensräumen, Jagd auf Buschfleisch und der Kontakt der Menschen mit unbekannten Viren, die in Wirtstieren lauern – das ist Ökologie. Solche Vorgänge spielen sich zwischen Menschen und anderen Lebewesen ab und werden zu einem bestimmten Zeitpunkt betrachtet. Vermehrungsgeschwindigkeit und Mutationsrate eines RNA -Virus, unterschiedlicher Erfolg verschiedener Virusstämme, Anpassung des Virus an einen neuen Wirt – das ist Evolution. Sie findet innerhalb der Population eines Organismus statt, weil die Population über längere Zeit hinweg auf ihre Umwelt reagiert. Zu den wichtigsten Erkenntnissen über die Evolution – und ihren wichtigsten Mechanismus, die natürliche Selektion, wie er von Darwin und seinen Nachfolgern formuliert wurde – gehört die, dass Evolution kein Ziel hat. Sie hat nur Folgen. Wer etwas anderes glaubt, zieht einen teleologischen Fehlschluss, der zwar naheliegend erscheint (»Rache des Regenwaldes«), aber in die Irre führt. Genau darum geht es Jon Epstein. Man darf sich nicht vorstellen, diese Viren hätten eine gezielte Strategie. Man darf nicht glauben, sie hätten den Menschen gegenüber irgendeine böse Absicht. »Es geht nur um Gelegenheiten.« Sie sind nicht hinter uns her. Wenn überhaupt, sind wir hinter ihnen her.
Aber, so frage ich, was hat es dann mit den Fledermäusen und Flughunden auf sich? Warum springen so viele zoonotische Viren aus der Ordnung der Fledertiere auf den Menschen über – oder warum scheinen es so viele zu sein? Oder ist das die falsche Frage?
»Es ist die richtige Frage«, erwidert er. »Aber wir haben bisher keine befriedigende Antwort darauf.«
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Raumwirkung
Eine befriedigende Antwort mag es nicht geben, aber man hat sich zumindest darum bemüht. Die Frage Warum ausgerechnet Fledertiere? habe ich Spezialisten für neue Infektionskrankheiten auf der ganzen Welt gestellt. Einer von ihnen ist Charles H. Calisher, ein angesehener Virologe, der kürzlich als Professor für Mikrobiologie an der Colorado State University in den Ruhestand gegangen ist.
Calisher promovierte 1964 an der Georgetown School of Medicine in Mikrobiologie. Seinen Lebensunterhalt verdiente er mit klassischer Virologie im Labor: Er züchtete Viren, vermehrte sie experimentell in Mäusen und Zellkulturen, untersuchte sie in elektronenmikroskopischen Aufnahmen und fand heraus, wo sie im Stammbaum der Viren einzuordnen sind. Nachdem er mehr als vier Jahrzehnte lang die unterschiedlichsten Viren in ihren Vektoren und Reservoirwirten untersucht hatte, ohne den Fledertieren besondere Aufmerksamkeit zu schenken, stand auch er irgendwann vor der Frage: Warum kommen so viele neue Erreger ausgerechnet aus Fledertieren?
Charlie Calisher ist ein kleiner Mann mit beunruhigendem Zwinkern. Seine Kollegen schätzen ihn wegen seines umfassenden Wissens, seines ätzenden Humors, seiner Bodenständigkeit, seiner unverblümten Art und wegen des großen, liebenswürdigen Herzens unter der rauen Schale. Nach dem Mittagessen in einem beliebten vietnamesischen Restaurant in Fort Collins fahren wir zu einem Laborkomplex der Colorado State University, wo er immer noch ein paar Projekte laufen hat. Er holt eine Flasche mit flachen Seitenwänden aus einem Brutschrank, legt sie unter ein Mikroskop, stellt scharf und sagt: »Sehen Sie mal hier – das sind La-Crosse-Viren.« Ich sehe Affenzellen in einer kirschroten Nährflüssigkeit. Sie werden von etwas angegriffen, das so winzig ist, dass man es nur an dem angerichteten Schaden erkennt. Wie Calisher mir erklärt, schicken Ärzte und Tierärzte aus der ganzen Welt ihm Gewebeproben, damit er daraus Viren heranzüchtet und identifiziert. Na
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