Spillover
erinnern.
Es ist jetzt 2 Uhr 40 morgens. Zeit, um auf das Dach zu steigen.
»Also gut«, sagt er. »Sind wir so weit?«
74
Ins Netz gegangen
Es ist eine mondlose Nacht. Wir schleichen durch das Dunkel wie Geisterjäger und klettern nacheinander die lange Bambusleiter hoch. Schon das Dach des Lagerhauses ist ein wenig unheimlich – eine große Fläche aus Dachpappe mit ein paar Flicken und Rissen, alt, vernachlässigt und ohne Gewähr, dass sie das Gewicht eines Menschen tragen kann. Meine Schutzbrille beschlägt schnell von der Feuchtigkeit, die aus meinem Atemgerät kommt, und so sehe ich kaum, wohin ich gehe. Und was noch schlimmer ist: Ich sehe auch kaum, wo das Gebäude zu Ende ist und die Leere beginnt. Das Einzige, was ich einigermaßen erkenne, ist Arif: Er bewegt sich in seinem Schutzanzug, blass und durchscheinend wie Casper, das freundliche Gespenst. Aber ich darf mich nicht ablenken lassen und muss aufpassen, wohin ich trete. Regel Nummer sechs, das wird mir jetzt klar, lautet: Nicht vom Dach fallen.
Die Flughunde sind alle zur nächtlichen Nahrungssuche unterwegs. Wir lauern hier, um sie bei der Rückkehr kurz vor Tagesanbruch zu fangen. Gofur und Pitu haben bereits das Netz hochgezogen, eine unsichtbare Wand aus feinem Gewebe in der Schwärze irgendwo über uns, so groß wie die Leinwand eines Autokinos. Wir kauern uns hin und warten. Es ist eine kalte Nacht. Ich lege mich auf der Dachpappe auf den Rücken, decke mich mit einer leichten Jacke so gut wie möglich zu und schlafe ein. Der erste Flughund geht uns um 4 Uhr 22 ins Netz.
Scheinwerfer flammen auf, Menschen springen hoch, Gofur lässt das Netz über die Rollen herunter, während sich Epstein und Pitu über das Tier hermachen und ich, nahezu blind durch meine Schutzbrille, hinter ihnen herstolpere. Pitu befreit den Flughund aus dem Netz, und Epstein übernimmt ihn genau mit der Technik, die er zuvor beschrieben hat: Er greift fest nach dem Kopf, legt Beine und Arme in die Zwischenräume zwischen seinen Fingern – zack, zack, zack, zack – und steckt das Tier in den Beutel, den er dann mit einem Stück Schnur fest verschließt. Gefangene Fledertiere verhalten sich ähnlich wie gefangene Schlangen: Sie beruhigen sich offenbar schneller, wenn man sie in weichem Stoff einschließt. Anschließend wird das Netz wieder hochgezogen. Ich bin beeindruckt davon, wie professionell Epsteins Team arbeitet.
Zwischen dem ersten Flughund und dem Tagesanbruch, noch bevor der Gebetsruf von den umliegenden Moscheen erklingt, haben sie fünf weitere Tiere in ihren Beuteln. Sechs Flughunde in einer Nacht – das ist für Epstein wenig; im Durchschnitt hat er gern ungefähr zehn, aber an einer neuen Stelle ist es ein guter Anfang. Durch kleine Veränderungen an der Aufstellung des Netzes und der Höhe der Masten wird sich die Ausbeute hier in den nächsten Tagen erhöhen. Als sich die Morgendämmerung breitmacht, klettern wir die Leiter hinunter und begeben uns in das provisorische Labor. Auch hier hat jeder eine feste Aufgabe. Meine besteht darin, nicht im Weg zu stehen und hin und wieder bei einem Abstrich zu helfen.
Drei Stunden später sind alle Blutproben und Abstriche entnommen, die Röhrchen befinden sich im Tiefkühltank, und es ist an der Zeit, die Flughunde wieder freizulassen. Jedes Tier bekommt zunächst etwas Fruchtsaft zu trinken, damit der durch die Blutentnahme eingetretene Flüssigkeitsverlust ausgeglichen wird. Dann marschieren wir alle zurück in den grasbewachsenen Hof, wo sich unter den Schirmakazien eine kleine Gruppe von Männern, Frauen und Kindern aus der Nachbarschaft eingefunden hat. Epstein, der jetzt wieder seine Schweißerbrille aufgesetzt hat, entlässt die ersten fünf Flughunde nacheinander aus ihren Beuteln.
Bevor Epstein den letzten Flughund freilässt, hält er vor den versammelten Bürgern eine kurze Ansprache, die von Arif übersetzt wird. Er gratuliert ihnen und erklärt, sie hätten großes Glück, dass ihr Dorf die Heimat so vieler großartiger Fledertiere ist, die den Obstbäumen und anderen Pflanzen großen Nutzen bringen. Er versichert ihnen, er und seine Kollegen hätten große Vorsicht walten lassen, um den Tieren nichts zu Leide zu tun, während sie ihre Gesundheit untersuchten. Dann lässt er den letzten Flughund los. Aus Kniehöhe steigt er in die Luft und fliegt davon.
Später sagt Epstein zu mir: »Jeder dieser sechs Flughunde hätte infiziert sein können. So ist das nun mal. Sie sehen völlig gesund aus.
Weitere Kostenlose Bücher