Spillover
einige größere Gesetzmäßigkeiten herauszuarbeiten. Wie sich herausstellte, kam der Artikel genau zur rechten Zeit. Er breitete eine Vielzahl von Tatsachen und Gedanken aus – und wo Tatsachen Mangelware waren, stellte er richtungsweisende Fragen. Jetzt wurden auch andere Wissenschaftler aufmerksam. »Mit einem Mal klingelte dauernd das Telefon«, sagt Charlie. Sie erhielten Hunderte oder vielleicht sogar Tausende von Sonderdruckanforderungen und schickten ihren Artikel als PDF an Kollegen auf der ganzen Welt. Jeder – jedenfalls jeder in diesem beruflichen Universum – wollte etwas über die neuen Viren und ihre Verstecke in den Fledertieren erfahren. Ja, was ist denn nun das Besondere an den Fledertieren?
Der Artikel nannte eine Handvoll besonders wichtiger Punkte. Der erste stellte alle anderen in einen Zusammenhang: Es gibt viele verschiedene Fledertiere. Zur Ordnung Chiroptera (»Handflügler«) gehören 1116 Arten, das sind 25 Prozent aller bekannten Säugetierarten. Noch einmal: Jede vierte Säugetierspezies ist ein Fledertier. Eine solche Vielfalt könnte die Vermutung nahelegen, dass die Fledertiere in Wirklichkeit nicht mehr Viren beherbergen als ihrem Anteil an der Säugetiervielfalt entspricht; vielleicht kommt sie uns nur deshalb so erstaunlich groß vor. Vielleicht ist das Verhältnis der Viren pro Spezies nicht größer als bei anderen Säugetieren.
Und wenn doch? Calisher und seine Kollegen untersuchten einige Gründe, warum es so sein könnte.
Fledertiere gibt es nicht nur in vielen verschiedenen Arten, sondern auch in sehr großer Zahl, zudem leben sie sehr sozial. Viele Arten treten in riesigen Ansammlungen auf, unter Umständen drängen sich Millionen Individuen auf engem Raum. Außerdem sind sie eine sehr alte Abstammungslinie: Schon vor etwa 50 Millionen Jahren hatten sie sich annähernd zu ihrer heutigen Form entwickelt. Diese gewaltige Zeitspanne ermöglichte eine lange Geschichte der Verbindungen zwischen Viren und Fledertieren, und diese engen Verbindungen könnten zur Vielfalt der Viren beigetragen haben. Wenn eine Abstammungslinie der Fledertiere sich in zwei neue Arten aufspaltete, teilten sich möglicherweise auch die zugehörigen Viren auf, so dass nicht nur mehr Fledertierarten, sondern auch mehr Virustypen entstanden. Und da Fledertiere sich in so großer Zahl zum Schlafen oder Überwintern zusammenfinden, fällt es den Viren möglicherweise leichter, sich trotz der erworbenen Immunität vieler älterer Individuen in einer solchen Population zu halten. Erinnern wir uns an den Begriff der kritischen Populationsgröße und an die Masern, die in Städten von mehr als 500000 Einwohnern ihr Unwesen treiben. Fledertiere erreichen die kritische Gruppengröße vermutlich häufiger als die meisten anderen Säugetiere. Ihre Gemeinschaften sind in der Regel groß und häufig sogar riesig; damit liefern sie einen stetigen Nachschub an anfälligen Neugeborenen, die von einem Virus infiziert werden können und ihm so seinen Fortbestand ermöglichen.
Dieses Szenario geht von einem Virus aus, das jedes Tier nur für kurze Zeit infiziert und wie die Masern bei einem Individuum, das genesen ist, lebenslange Immunität hinterlässt. In einem Alternativszenario kann ein Virus eine chronische Dauerinfektion verursachen, die bei einem einzigen Tier über Monate oder sogar Jahre bestehen bleibt. Ist das der Fall, wird eine lange durchschnittliche Lebenserwartung der Fledertiere zum Vorteil für das Virus. Manche Fledermausarten leben 20 oder 25 Jahre. Wenn sie dann infiziert sind und Viren abgeben, erhöht eine derart lange Lebensdauer die Zahl der Gelegenheiten, das Virus an andere Fledermäuse weiterzugeben, enorm. Oder in der Sprache der Mathematik: R 0 nimmt mit der Lebensdauer einer dauerhaft infizierten Fledermaus zu. Und wie wir bereits erfahren haben, ist ein größeres R 0 immer gut für den Krankheitserreger.
Hilfreich sind auch enge soziale Beziehungen, und viele Fledertiere haben es offenbar zumindest beim Überwintern oder in ihren Schlafquartieren gern sehr eng. Die Mexikanischen Bulldog-Fledermäuse in den Höhlen von Carlsbad in New Mexico zum Beispiel drängen sich mit mehr als 3000 Individuen je Quadratmeter zusammen. Das würden nicht einmal Labormäuse in einem überfüllten Käfig aushalten. Wenn ein Virus durch unmittelbaren Körperkontakt, Körperflüssigkeiten oder Tröpfcheninfektion übertragen wird, verbessern solche beengten Verhältnisse seine Chancen. Unter
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