Spillover
gut. So etwas hat er sein ganzes Leben lang gemacht, und meistens ging es dabei um Hantaviren in Nagetieren. Dann kam sein kleiner Ausflug zu den Fledertieren.
Wir begeben uns in sein Büro. Es ist jetzt, da er im Ruhestand ist, fast leer und enthält nur noch einen Schreibtisch, zwei Stühle, einen Computer und ein paar Kisten. Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück, legt die Schuhe auf den Schreibtisch und fängt an zu reden: Arboviren, seine Zeit an den CDC , Hantaviren bei Nagetieren, La-Crosse-Virus, Stechmücken und eine Gruppe von Gleichgesinnten, die sich Rocky Mountain Virology Club nennt. Er holt aus, aber da er weiß, wofür ich mich interessiere, kommt er irgendwann auf ein folgenschweres Gespräch zurück, das er ungefähr vor sechs Jahren mit einer Kollegin geführt hat. Kurz zuvor war bekannt geworden, dass man den SARS -Erreger, das neue, tödliche Coronavirus, zu chinesischen Fledermäusen zurückverfolgt hatte. Die Kollegin war Kathryn V . Holmes, eine Spezialistin für Coronaviren und ihre molekulare Struktur. Sie war am Health Sciences Center der University of Colorado in Denver tätig, das über den Highway von Fort Collins schnell zu erreichen ist. Charlie erzählt mir die Geschichte, einschließlich der Dialoge, auf seine lebhaft-handfeste Weise:
»Wir sollten einen Übersichtsartikel über Fledertiere und ihre Viren schreiben«, sagte er zu Kay Holmes. »Dieses Fledermaus-Coronavirus ist wirklich interessant.«
Sie schien interessiert, zögerte aber noch. »Was soll da drinstehen?«
»Na ja, dies und das«, sagte Charlie ausweichend. Die Idee nahm in seinem Kopf gerade erst Form an. »Vielleicht etwas Immunologisches.«
»Was wissen wir von Immunologie?«
Charlie: »Ich hab’ keine Ahnung von Immunologie. Wir müssen Tony fragen.«
Tony Schountz, ein befreundeter Kollege, ist Immunbiologe an der University of Northern Colorado in Greeley. Er erforscht die Reaktion von Menschen und Mäusen auf Hantaviren. Mit Fledertieren hatte sich Schountz genau wie Calisher zu jener Zeit noch nie befasst. Aber er ist ein kerniger Typ, ein Sportsmann – im College stand er als Fänger im Baseballteam.
»Tony, was weißt du über Fledertiere?«
»Oha. Eigentlich gar nichts.«
»Hast du schon mal was über die Immunologie von Fledertieren gelesen?«
»Nein.«
»Hast du schon mal was von Artikeln über die Immunologie von Fledertieren gehört?«
»Nein.«
Charlie ging es genauso, er hatte nichts gelesen, was über den Nachweis von Antikörpern und die Bestätigung einer Infektion hinausgegangen wäre. Offensichtlich hatte sich noch nie jemand mit der weiter reichenden Frage beschäftigt, wie das Immunsystem von Fledertieren reagiert.
»Also habe ich zu Kay gesagt: ›Komm, wir schreiben einen Übersichtsartikel‹«, erzählt Charlie.
»Tony hat gesagt: ›Bist du verrückt? Wir wissen rein gar nichts!‹«
»Also, sie weiß nichts, du weißt nichts, und ich weiß nichts. Das ist doch toll. Wir sind absolut unvoreingenommen.«
» Unvoreingenommen? «, sagte Schountz. »Wir haben keine Informationen !«
»Darauf ich: ›Tony, davon sollten wir uns nicht abhalten lassen.‹«
So funktioniert Wissenschaft. Aber Calisher und seine beiden Kollegen hatten nicht vor, ihr Unwissen an die große Glocke zu hängen. Wenn wir auf diesem oder jenem Gebiet nicht Bescheid wissen, so erklärt er, müssen wir uns an jemanden wenden, der Bescheid weiß. Also holten sie James E. Childs ins Boot, einen Epidemiologen und Tollwutexperten von der Yale School of Medicine (ein alter Freund von Charlie aus CDC -Tagen), außerdem Hume Field, der mittlerweile überall mitmischte. Diese Fünfergruppe mit ihren unterschiedlichen Fachkenntnissen und dem großen Vorzug der Unvoreingenommenheit schrieb einen langen und sehr breit angelegten Artikel. Mehrere Redaktionen von Fachzeitschriften signalisierten Interesse, wollten das Manuskript aber kürzen. Charlie lehnte ab. Schließlich erschien es ungekürzt in einer dickeren Fachzeitschrift unter dem Titel »Bats: Important Reservoir Hosts of Emerging Viruses« (»Fledertiere: Wichtige Reservoirwirte neu auftauchender Viren«). Wie Charlie es sich ursprünglich vorgestellt hatte, war es ein Übersichtsartikel, das heißt, die fünf Autoren behaupteten nicht, sie würden Originalbefunde aus der Forschung präsentieren. Sie fassten nur frühere Arbeiten zusammen, trugen Einzelergebnisse (darunter unveröffentlichte, von anderen beigesteuerte Daten) zusammen und versuchten,
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