Spillover
Bedingungen wie denen in Carlsbad, so Calishers Arbeitsgruppe, ist selbst die Übertragung von Tollwut durch die Luft nachgewiesen.
Wo wir gerade von Luft sprechen: Es ist durchaus nicht unwichtig, dass Fledertiere fliegen können. Ein einzelner Flughund kann bei der nächtlichen Nahrungssuche Dutzende von Kilometern zurücklegen, und wenn er jahreszeitlich bedingt zwischen verschiedenen Schlafplätzen hin und her wechselt, können es auch Hunderte von Kilometern sein. Manche Fledermäuse wandern zwischen ihren Sommer- und Winterquartieren bis zu 1300 Kilometer. Nagetiere legen solche Strecken nicht zurück, und auch unter den größeren Säugetieren tun es nur die wenigsten. Außerdem bewegen sich Fledertiere nicht nur in zwei, sondern in drei Dimensionen durch die Landschaft: Sie steigen weit in die Höhe, stoßen tief herab, fliegen auf mittlerer Höhe und bewohnen so ein weitaus größeres Raumvolumen als die meisten anderen Tiere. Sie sind in ungeheuer großer Breite und Tiefe gegenwärtig. Steigt damit die Wahrscheinlichkeit, dass sie oder die von ihnen mitgeführten Viren in Kontakt mit Menschen kommen? Schon möglich.
Ein weiterer Faktor sind die immunologischen Eigenschaften der Fledertiere. Dieses Thema konnte Calishers Gruppe auch mit Tony Schountz als Koautor nur streifen, denn darüber weiß niemand besonders viel. Vorwiegend stellten sie Fragen. Ist es möglich, dass die Immunantwort der Fledertiere während der Winterruhe durch die niedrigen Temperaturen unterdrückt wird, so dass Viren in ihrem Blut erhalten bleiben? Ist es möglich, dass Antikörper, die ein Virus neutralisieren, in Fledertieren nicht so lange im Blut verbleiben wie bei anderen Säugetieren? Spielt das hohe Alter der Fledertier-Abstammungslinie eine Rolle? Spaltete sich diese Linie von anderen Säugetieren ab, bevor das Immunsystem der Säugetiere durch evolutionäre Feinabstimmung die Leistungsfähigkeit erreichte, die wir heute bei Nagetieren und Primaten beobachten? Gibt es in der Immunantwort der Fledertiere eine andere »Schwelle«, die dem Virus die ungehinderte Vermehrung erlaubt, solange es dem Tier keinen Schaden zufügt? 124
Um solche Fragen zu beantworten, müsste man nach Angaben von Calishers Arbeitsgruppe mit neuen Forschungsarbeiten neue Daten gewinnen. Und diese Arbeiten wären nicht allein mit den eleganten Hilfsmitteln und Methoden der Molekulargenetik zu bewältigen – der Vergleich langer Nucleotidsequenzen mit Computerprogrammen reicht dafür nicht aus. Sie schreiben:
Mit der – manchmal ausschließlichen – Konzentration auf die Charakterisierung von Nucleotidsequenzen statt der Charakterisierung von Viren sind wir den Weg des geringsten Widerstands gegangen und haben darauf verzichtet, uns mit real existierenden Viren zu beschäftigen. 125
Der Artikel war eine Gemeinschaftsarbeit, aber dieser Satz hört sich sehr nach Charlie Calisher an. Was er bedeutet? Hallo, Leute! Wenn wir verstehen wollen, wie diese Erreger funktionieren, müssen wir sie auf die altmodische Weise züchten und in Fleisch und Blut beobachten. Wenn wir das nicht tun, so heißt es in dem Artikel weiter, »warten wir einfach ab, bis die nächste katastrophale Epidemie eines zoonotischen Virus ausbricht«. 126
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Marburg in Uganda
Charlie Calisher und seine Koautoren streiften nicht nur einige grundlegende Prinzipien, sondern sie erörterten auch im Detail eine Reihe von Viren, die mit Fledertieren in Verbindung stehen: Nipah, Hendra, das Tollwutvirus und die eng mit ihm verwandten Lyssaviren, SARS - C o V und einige andere. Ebola und das Marburgvirus erwähnen sie zwar, aber vorsichtshalber lassen sie diese beiden aus der Liste der Viren, die erwiesenermaßen Fledertiere als Reservoirwirte nutzen, weg. »Die natürlichen Reservoirwirte dieser Viren sind bisher nicht identifiziert«, 127 sagen sie über Marburg und Ebola – was zur Zeit der Veröffentlichung stimmte. Ihr Artikel erschien 2006. Damals hatte man in einigen Flughunden bereits Bruchstücke von Ebola- RNA entdeckt, in anderen waren Antikörper gegen das Ebolavirus gefunden worden. Aber das war noch kein ausreichender Beweis. Bisher hatte niemand lebende Filoviren aus einem Fledertier isoliert; nachdem entsprechende Versuche gescheitert waren, blieben Ebola und Marburg weiterhin gut versteckt.
Im Jahr 2007 tauchte dann das Marburgvirus wieder auf, dieses Mal bei Minenarbeitern in Uganda. Es war eine kleine Epidemie: Betroffen waren nur vier Männer, von denen einer
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