Spillover
enthalten ist. Damit schien man ein Muster gefunden zu haben, mit dem sich das immer noch recht verwirrende Zusammentreffen von Symptomen erklären ließ. »Die Häufung von AIDS -Fällen, die durch homosexuelle Kontakte untereinander in Verbindung stehen, verträgt sich mit der Hypothese eines infektiösen Erregers«, fügte die CDC -Arbeitsgruppe hinzu. Damit meinte sie: kein chemisches Gift, kein genetisches Zufallsereignis, sondern ein Krankheitserreger.
Auerbach und seine Kollegen sammelten Informationen über 19 AIDS -Fälle aus dem Süden Kaliforniens. Sie befragten jeden Patienten oder – wenn er schon tot war – seine engsten Bekannten. Mit weiteren 21 Patienten sprachen die Wissenschaftler in New York und anderen nordamerikanischen Großstädten, und aus diesen vierzig Fallgeschichten rekonstruierten sie eine Grafik mit vierzig untereinander verbundenen Kreisen. Sie sieht aus wie eine Konstruktion aus dem Baukasten und zeigt, wer mit wem sexuellen Kontakt hatte. Die Identität der Patienten wurde mit Ortsangaben und Zahlen codiert, beispielsweise » SF 1«, »LA6« oder » NY 19«. In der Mitte des Netzwerks befand sich ein Kreis mit der Beschriftung »0«, der mit acht anderen Scheiben unmittelbar und mit allen übrigen indirekt verbunden war. Die Wissenschaftler nannten zwar den Namen nicht, aber dieser Patient war Gaëtan Dugas. Randy Shilts machte aus der nüchternen Ziffer »0« später in seinem Buch das klangvollere »Patient null«. 138 Eines aber kommt weder in dem Wort »null« noch in der Ziffer »0« oder der Stellung des Kreises in der Mitte der Abbildung zum Ausdruck: Gaëtan Dugas hatte das AIDS -Virus nicht erfunden. Alles kommt von irgendwoher, und auch er hatte es sich irgendwo zugezogen. Dugas infizierte sich – mutmaßlich bei einem Sexualkontakt –, und das nicht in Afrika und nicht in Haiti, sondern näher an der Heimat. Das war ohne weiteres möglich, denn wie wir heute wissen, war HIV -1 bereits in Nordamerika angekommen, als Gaëtan Dugas noch ein unschuldiger Jugendlicher war.
Die Krankheit hatte auch Europa schon erreicht, allerdings war sie dort noch nicht weit gekommen. Die dänische Ärztin Grethe Rask hatte in Afrika gearbeitet und war 1977 aus dem damaligen Zaire nach Kopenhagen zurückgekehrt, um eine Krankheit behandeln zu lassen, die schon seit mehreren Jahren an ihr nagte. In Zaire hatte Rask anfangs ein kleines Krankenhaus in einer abgelegenen Ortschaft im Norden des Landes geleitet, später war sie als ärztliche Leiterin einer großen Einrichtung des Roten Kreuzes in der Hauptstadt Kinshasa tätig gewesen. Irgendwann in dieser Zeit, vermutlich während eines chirurgischen Eingriffs mit unzureichenden Schutzmaßnahmen (beispielsweise ohne Latexhandschuhe), infizierte sie sich mit etwas, für das man zu jener Zeit weder eine Beschreibung noch einen Namen hatte. Sie fühlte sich krank und erschöpft. Sie hatte ständig Durchfall und nahm immer mehr ab. Die Lymphknoten schwollen an und nicht mehr ab. Zu einer Bekannten sagte sie: »Ich möchte lieber zu Hause sterben.« 139 In Dänemark zeigte sich bei Untersuchungen eine zu geringe Zahl von T-Zellen. Ihre Atemnot war so groß, dass sie nur mit reinem Sauerstoff überleben konnte. Sie hatte mit Staphylokokkeninfektionen zu kämpfen, in ihrem Mund machte sich der Candida -Pilz breit. Als Grethe Rask am 12. Dezember 1977 starb, war ihre Lunge von Pneumocystis jirovecii besiedelt, und das war wohl letztlich die Todesursache.
Nach der medizinischen Lehre jener Zeit hätte es eigentlich nicht passieren dürfen. Die Pneumocystis -Lungenentzündung war normalerweise keine tödliche Krankheit. Es musste eine tiefer gehende Erklärung geben, und die fand man schließlich auch. Neun Jahre später erwies sich eine Probe von Rasks Blutserum als HIV -1-positiv.
Alle diese unglücklichen Menschen – Grethe Rask, Gaëtan Dugas, die fünf Männer in Gottliebs Bericht aus Los Angeles, Friedman-Kiens Kaposi-Patienten, die Haitianer in Miami, die 39 Männer, die außer Dugas in der Studie von David Auerbach genannt wurden – gehörten zu den ersten identifizierten Fällen, in denen man im Rückblick eine AIDS -Erkrankung erkennen kann. Sie waren aber nicht die ersten Opfer. Nicht einmal annähernd. Sie stellen vielmehr Zwischenstationen im Verlauf der Pandemie dar und kennzeichnen das Stadium, in dem ein Phänomen, das sich zuvor langsam und fast unbemerkt aufgebaut hat, plötzlich eine gewaltige Dynamik entwickelt. Oder, um es
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