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Spillover

Spillover

Titel: Spillover Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Quammen
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der Straße, so sagt sie, sieht man Männer Hand in Hand gehen. Wenn jemand krank ist, führt die Besorgnis nochmals zu einer Verstärkung des Körperkontakts, und das umso mehr, wenn es sich bei dem Erkrankten um eine verehrte Persönlichkeit wie den Sektenführer in Guholaxmipur handelt. Seine Anhänger liebten diesen Mann und glaubten, er stehe Gott nahe. Als er auf dem Sterbebett lag, kamen die Menschen und baten um die Gunst einer letzten Berührung, oder sie flüsterten ihm Segenswünsche ins Ohr, rieben seinen Körper mit Schwämmen ab oder boten ihm einen Schluck Wasser, Milch oder Fruchtsaft an. »Das ist hier so Sitte«, erklärt Khan. »Man führt Wasser zum Mund eines Sterbenden.« Viele Menschen kamen an sein Bett, beugten sich über ihn, boten im Wasser an. »Und dabei hat er die ganze Zeit gehustet«, sagt sie. »Und der Nebel war bei allen auf den …«
    Ich glaube, sie wollte »Gesichtern« sagen, aber ich bin so dumm, sie zu unterbrechen.
    »Der Nebel?«
    »Ja, der Speichel«, sagt Khan. »Von seinem Husten. Der Speichel war … die Leute haben uns gesagt, dass er gehustet hat, und sein Husten, der Speichel war auf Körper, Händen …« Sie spricht nicht weiter und überlässt es mir, die fehlenden Gedanken zu ergänzen. Dann erzählt sie mir, dass das Händewaschen im Gegensatz zum Händchenhalten im Bangladesch nicht allgemein üblich ist. Die unglückseligen Anhänger und Familienmitglieder verließen ihre letzte Audienz möglicherweise mit dem Speichel des heiligen Mannes auf den Händen – und dann rieben sie sich damit die Augen, fassten das Essen an oder nahmen das Virus auf andere Weise auf. Wenn man es so macht, braucht man keinen Palmensaft.
    84
    Exoten bevorzugt?
    In den nächsten drei Tagen suche ich das ICDDR,B noch mehrfach auf, das in einem von einer hohen Mauer umgebenden Gebäudekomplex untergebracht ist. Außer mit Khan und Gurley spreche ich mich mit ein paar hochrangigen Verwaltungsbeamten und einigen engagierten jungen Wissenschaftlern und erhalte von ihnen noch weitere Erkenntnisse und Einschätzungen zum Nipah-Virus.
    Das Cholerakrankenhaus wurde 1962 als klinische Ergänzung zu einem älteren Forschungsinstitut gegründet. Später hat man sie zum ICDDR,B zusammengeführt. Das Krankenhaus bietet jedes Jahr mehr als 100000 Patienten kostenlose Behandlung, und zwar nicht nur bei Cholera, sondern auch bei Ruhr und anderen Durchfallerkrankungen. Die meisten Patienten sind Kinder unter sechs Jahren. 80 Prozent von ihnen kommen mangelernährt in die Klinik. Wie viele überleben, weiß ich nicht. Ich weiß noch nicht einmal, wie viele Cholerafälle es jedes Jahr gibt, wenn die Monsunsaison in Bangladesch infiziertes Wasser in Dörfer und Slums spült; die meisten Fälle werden nicht gemeldet, und systematische nationale Statistiken gibt es nicht. Nach einer ernst zu nehmenden Schätzung sind es etwa eine Million. Eines aber kann ich sagen: In Bangladesch, einem in so vielerlei Hinsicht erstaunlichen Land, das bei einem wohlhabenden Besucher Faszination und Entsetzen gleichermaßen hervorruft, haben es arme Bürger in der Stadt wie auf dem Land besonders schwer, denn wenn man arm ist, fällt es in diesem Land nicht leicht, gesund zu bleiben. Tausende von Menschen, junge wie alte, sterben an Cholera und anderen Durchfallerkrankungen, aber auch an Lungenentzündung, Tuberkulose und Masern. Keine dieser Krankheiten geht auf neu aufgetauchte, rätselhafte oder zoonotische Erreger zurück. Aber zusammengenommen stellen sie die Auswirkungen der Nipah-Virusenzephalitis bei Weitem in den Schatten – jedenfalls bisher.
    Warum sind zoonotische Krankheiten überhaupt wichtig? Das wurde ich oft gefragt, und ich habe die Frage in den sechs Jahren, seit ich mich mit dem Thema beschäftige, mehr als einmal auch anderen gestellt. (Ein angesehener Historiker, den ich auf einer Tagung kennenlernte, schlug mir vor, ich solle Ebola vergessen und stattdessen ein Buch über Asthma schreiben, von dem 22 Millionen US-Amerikaner betroffen sind. Er war zufällig selbst Asthmatiker.) Schließlich fordern die altmodischen, nicht zoonotischen Infektionskrankheiten – Cholera, Typhus, Tuberkulose, Rotaviren-Durchfall, Malaria (mit Ausnahme von Plasmodium knowlesi ), ganz zu schweigen von chronischen Krankheiten wie Krebs und Herzleiden – weltweit einen hohen Tribut. Warum also soll man die Aufmerksamkeit auf diese exotischen Infektionen lenken, diese Anomalien, die von Fledertieren oder Affen oder wer weiß

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