Spillover
wiederum in den trockenen Begriffen der mathematischen Epidemiologie auszudrücken, deren Anwendung für die Geschichte von AIDS von entscheidender Bedeutung ist: R 0 ist für das fragliche Virus um irgendeinen Betrag über 1,0 angestiegen, und die Seuche ist in der Welt. Der wahre Ausgangspunkt von AIDS liegt aber ganz woanders, und bis einige Wissenschaftler ihn entdeckten, sollten noch Jahrzehnte vergehen.
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Drei Entdecker und ein Virus
In den ersten Jahren nach ihrer Entdeckung war die neue Krankheit nicht zu fassen, ein Schemen mit verschiedenen Namen und Abkürzungen. Eine davon war GRID ( Gay-Related Immune Deficiency ). Diese Bezeichnung erwies sich aber als zu eng gefasst, denn nach und nach tauchten auch heterosexuelle Patienten auf – Drogenabhängige, die an der Nadel hingen, Bluter und andere. Manche Ärzte bevorzugten die Abkürzung ACIDS ( Acquired Community Immune Deficiency Syndrome ). Mit dem Wort community wollte man andeuten, dass die Menschen es sich »irgendwo draußen« zuzogen und nicht etwa in den Krankenhäusern. Eine genauere, wenn auch ziemlich unhandliche Formulierung bevorzugten die CDC für kurze Zeit in ihrem Mitteilungsblatt: Kaposi’s sarcoma and opportunistic infections in previously healthy persons (»Kaposi-Sarkom und opportunistische Infektionen bei zuvor gesunden Personen«). Im September 1982 änderte man die Terminologie und sprach nun vom Acquired Immune Deficiency Syndrome (»erworbenes Immunschwäche-Syndrom«), abgekürzt AIDS . Dieser Begriff setzte sich weltweit durch.
Das Krankheitsbild zu benennen, war in der Frühzeit noch eine der einfachsten Aufgaben. Viel dringender war es, die Ursache zu identifizieren. Als die Berichte von Gottlieb und Friedman-Kien erschienen, wusste niemand, welche Art von Erreger für diese Kombination rätselhafter, tödlicher Symptome verantwortlich war – ja es war noch nicht einmal klar, ob es sich überhaupt um einen einzelnen Erreger handelte. Die Vorstellung von einem Virus war anfangs nur eine plausible Vermutung.
Ein Wissenschaftler, der diese Vermutung anstellte, war Luc Montagnier, damals ein weitgehend unbekannter Molekularbiologe am Pariser Institut Pasteur. Er hatte sich mit seinen Forschungsarbeiten bis dahin vor allem auf Krebs verursachende Viren spezialisiert, insbesondere auf die Gruppe der Retroviren, von denen einige bei Vögeln und Menschen Tumore hervorrufen. Retroviren sind noch raffinierter und hartnäckiger als ein durchschnittliches Virus. Ihren Namen tragen sie, weil sie bei der Umsetzung ihrer genetischen Information die umgekehrte Richtung einschlagen: Ein Retrovirus nutzt nicht RNA als Matrize zur Übersetzung der DNA in Proteine, sondern es schreibt seine RNA in einer Wirtszelle in DNA um. Diese Virus- DNA dringt dann in den Zellkern ein und integriert sich in das Genom der Wirtszelle; damit ist gewährleistet, dass das Virus immer dann repliziert wird, wenn sich seine Wirtszelle teilt. Luc Montagnier hatte die entsprechenden Mechanismen bei Tieren – Hühnern, Mäusen, Primaten – untersucht und ging der Frage nach, ob sie auch für Krebserkrankungen des Menschen eine Rolle spielen. Darüber hinaus bestand die beunruhigende Möglichkeit, dass Retroviren die neue Krankheit hervorriefen, die jetzt in Amerika und Europa auftauchte.
Noch gab es keinen handfesten Beweis für ein Virus als Ursache von AIDS . In diese Richtung deuteten aber dreierlei Indizien, die Montagnier in seinen Memoiren, einem Buch mit dem Titel Virus (dt. Von Viren und Menschen ), noch einmal benennt. Erstens kam AIDS bei Homosexuellen vor, die durch sexuelle Beziehungen verbunden waren; dies legte die Vermutung nahe, dass es sich um eine Infektionskrankheit handelt. Zweitens konnte man aus dem Auftauchen bei Drogenabhängigen auf einen mit dem Blut übertragenen Erreger schließen. Und drittens ließen die Fälle unter Blutern vermuten, dass der mit dem Blut übertragene Erreger dem Nachweis in weiterverarbeiteten Blutprodukten, beispielsweise Gerinnungsfaktoren, entging. Er war also sehr klein, ansteckend und befand sich im Blut. » AIDS konnte nicht von einem herkömmlichen Bakterium, einem Pilz oder einem Protozoon übertragen werden«, schrieb Montagnier, »denn solche Erreger werden von den Filtern zurückgehalten, durch die Blutprodukte, die Bluter zum Überleben brauchen, hindurchlaufen. Damit blieb nur noch ein kleinerer Organismus übrig: Bei dem Erreger, der für AIDS verantwortlich war, musste es sich um ein Virus
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