Spillover
J. J. Muyembe im Koffer nach Belgien gebracht hatte –, stand Michael Worobey bereit. DRC 60 war eine dieser Proben, und sie erzählte eine überraschende Geschichte.
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Die molekulare Uhr
Das Durchmustern alter, in Paraffin eingebetteter Gewebeproben, in denen man Virus- RNA finden will, ist auch für einen Experten alles andere als einfach. Das Problem war nicht, dass sie 43 Jahre bei Raumtemperatur in einer verstaubten Kammer in der Nähe des Äquators gelegen hatten. Die Schwierigkeiten erwuchsen vielmehr aus den Chemikalien, die man zur Fixierung des Gewebes verwendet hatte – den Substanzen, die 1960 die Entsprechung zu Methanol und Xylol in den Kolben bei Professor Kabongo gewesen waren. Damals bevorzugten die Pathologen das sogenannte Bouin-Fixiermittel, eine hochwirksame Mischung, die vorwiegend Formalin und Pikrinsäure enthielt. Sie sorgte sehr gut dafür, dass die Zellstruktur eines Gewebes erhalten blieb, so dass man die Proben in dünne Scheiben schneiden und unter dem Mikroskop untersuchen konnte, die langen Lebensmoleküle ruinierte sie aber völlig. Wie Worobey mir erklärte, zerlegte sie DNA und RNA in winzige Fragmente, und zwischen den Molekülen bildeten sich neue chemische Bindungen; das Ergebnis war »ein großer verknoteter Klumpen anstelle einer hübschen Perlenkette, mit der man Molekularbiologie betreiben kann«. Da das Verfahren so arbeitsaufwändig war, untersuchte er nur 27 der 813 Gewebeblöcke aus Kinshasa. Unter diesen 27 fand er einen mit RNA -Fragmenten, die unverkennbar auf HIV -1 hindeuteten. Worobey blieb hartnäckig, entwirrte die Masse und fügte die Fragmente zu der Basensequenz zusammen, die er als DRC 60 bezeichnete.
Das war die »feuchte« Arbeit im Labor. Den trockenen Teil erledigte vorwiegend der Computer: Er stellte Base für Base einen Vergleich zwischen DRC60 und ZR 59 an. Außerdem nahm er weiter gefasste Vergleiche vor und ordnete beide Sequenzen in den bekannten Stammbaum der HIV -1-Gruppe M ein. Mit solchen Vergleichen will man herausfinden, wie stark die Viren sich im Laufe der Evolution auseinanderentwickelt haben. Wie weit haben sie sich im Stammbaum voneinander entfernt? Grundlage der evolutionären Auseinanderentwicklung sind Mutationen auf der Ebene einzelner Basen (es gibt auch andere, die hier aber nicht von Bedeutung sind), und wie ich bereits erläutert habe, ist die Mutationsrate bei RNA -Viren wie HIV relativ hoch. Ebenso wichtig ist, dass man die durchschnittliche Mutationsrate von HIV -1 kennt – zumindest kann man aufgrund der Analyse zahlreicher Stämme eine begründete Schätzung vornehmen. Diese Mutationsrate ist die »molekulare Uhr« des Virus. Jedes Virus hat seine eigene Mutationsrate und damit auch seine eigene Uhr, die das Tempo des Wandels misst. Am Ausmaß der Unterschiede zwischen zwei Virusstämmen kann man also ablesen, wie viel Zeit seit ihrer Auseinanderentwicklung von einem gemeinsamen Vorfahren vergangen ist. Trägt man die Größe der Unterschiede gegen die Geschwindigkeit der Uhr auf, erhält man die verstrichene Zeit. Auf diese Weise berechnen Molekularbiologen einen wichtigen Parameter: die Zeit seit dem letzten gemeinsamen Vorfahren.
So weit klar? Wunderbar. Holen wir einmal tief Luft. Die entwirrten und neu sortierten Fragmente werden nun ihr lange gehütetes Geheimnis preisgeben und uns zu einer wichtigen wissenschaftlichen Erkenntnis verhelfen.
Wie Michael Worobey feststellte, bestanden zwischen DRC 60 und ZR 59, die nahezu zur gleichen Zeit aus Menschen in Kinshasa entnommen worden waren, große Unterschiede. Zwar lagen beide innerhalb des Spektrums, das unverkennbar die HIV -1-Gruppe M kennzeichnet; keinen von beiden hätte man mit der Gruppe N oder O verwechselt, und ebenso wenig hätte man sie für das Schimpansenvirus SI V cpz halten können. Aber innerhalb der Gruppe M hatten sie sich weit auseinanderentwickelt. Wie weit? Nun, in einem Abschnitt unterschieden sich die beiden Versionen um volle zwölf Prozent. Wie groß war dieser Unterschied in zeitlicher Hinsicht? Nach Worobeys Berechnung ungefähr fünfzig Jahre. Oder genauer gesagt: Er verlegte den letzten gemeinsamen Vorfahren von DRC 60 und ZR 59 in das Jahr 1908 plus/minus einer Fehlerspanne von einigen Jahren.
Demnach hatte sich der Spillover also 1908 ereignet? Das wäre viel früher, als man bis dahin angenommen hatte, und eine solche Entdeckung findet natürlich Eingang in ein ehrwürdiges Fachblatt wie Nature . Als die Veröffentlichung 2008 –
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