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Spillover

Spillover

Titel: Spillover Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Quammen
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Injektionen mit einem Extrakt der indischen Arzneipflanze Chaulmoogra unterziehen, der ein Jahr lang jede Woche zwei- oder dreimal gespritzt wurde. In Belgisch-Kongo suchten mobile Gruppen von injecteurs – Personen ohne formelle Ausbildung, aber mit ein wenig technischer Einarbeitung – die Trypanosomiasis-Patienten in den Dörfern auf und verabreichten ihnen die wöchentlichen Spritzen. Zu jener Zeit war man völlig hingerissen vom neuesten Wunder der Medizin: der Behandlung mit der Spritze. Alle wurden gestochen.
    Das alles spielte sich natürlich lange vor dem Zeitalter der Einwegspritze ab. Die Spritze, mit der man Arzneimittel in Muskeln oder Blutbahn injizieren kann, wurde 1848 erfunden, und bis nach dem Ersten Weltkrieg wurden solche Instrumente von qualifizierten Handwerkern aus Glas und Metall hergestellt. Sie waren teuer, empfindlich und sollten, wie viele andere medizinische Präzisionsinstrumente, immer wieder verwendet werden. In den 1920er Jahren wurde ihre Herstellung so weit mechanisiert, dass sich bis 1930 die Spritzenproduktion weltweit bereits auf zwei Millionen Exemplare belief. Damit waren sie zwar leichter erhältlich, aber immer noch keine Wegwerfartikel. Für die Gesundheitsbeamten, die zu jener Zeit in Zentralafrika tätig waren, waren sie unersetzlich, aber sie waren auch knapp. Eugène Jamot, ein berühmter französischer Arzt, der von 1917 bis 1919 unmittelbar östlich des oberen Sangha (in einem Teil von Französisch-Äquatorialafrika, der damals Oubangui-Chari genannt wurde) tätig war, behandelte 5347 Fälle von Trypanosomiasis mit nur sechs Spritzen. Bei einer solchen Fließband-Verabreichung von Injektionen blieb keine Zeit, Spritzen und Kanülen nach jeder Benutzung auszukochen. Heute lässt sich aufgrund spärlicher Quellenlage und dürftiger Zeugenaussagen kaum genau in Erfahrung bringen, welche Hygienemaßnahmen damals ergriffen wurden. Ein belgischer Arzt schrieb 1953: »Im Kongo gibt es verschiedene Gesundheitseinrichtungen (Krankenhäuser, Apotheken etc.), in denen die einheimischen Krankenschwestern jeden Tag Dutzende oder sogar Hunderte von Injektionen unter Bedingungen verabreichen, unter denen die Sterilisation der Kanüle oder der Spritze völlig unmöglich ist.« 163 Diesem Autor ging es um die Gefahr, bei der Behandlung von Geschlechtskrankheiten versehentlich Hepatitis B zu übertragen, aber Pépin zitiert seinen Bericht ausführlich, weil er möglicherweise auch für AIDS von Bedeutung ist:
    Die große Zahl von Patienten und die geringe Menge der Spritzen, die dem Pflegepersonal zur Verfügung stehen, machen es unmöglich, sie nach jeder Benutzung zu autoklavieren. Gebrauchte Spritzen werden nur zunächst mit Wasser, dann mit Alkohol und Äther abgespült; anschließend sind sie für den nächsten Patienten einsatzbereit. Das gleiche Verfahren wird in allen Gesundheitseinrichtungen angewandt, in denen eine kleine Zahl von Krankenschwestern mit sehr knappen Vorräten eine große Zahl von Patienten versorgen muss. Die Spritze wird bei einem Patienten nach dem anderen benutzt, wobei gelegentlich kleine Mengen infektiösen Blutes zurückbleiben, die groß genug sind, um die Krankheit zu übertragen. 164
    Dieses Verfahren war keineswegs die Ausnahme, sondern die Regel. Bei seiner sorgfältigen Suche in alten Kolonialarchiven förderte Pépin große Zahlen zu Tage. Im Zeitraum von 1927 bis 1928 nahm die Arbeitsgruppe von Eugène Jarmot in Kamerun 207089 Tryparsamid-Injektionen vor, außerdem spritzte sie eine Million Mal Atoxyl, ein anderes arsenhaltiges Medikament zur Behandlung der Trypanosomiasis. In einem einzigen Jahr, 1937, verabreichte die Armee von Ärzten, Krankenschwestern und halbprofessionellen Helfern in Französisch-Äquatorialafrika insgesamt 588086 Injektionen gegen Tryopanosomiasis, außerdem unzählige weitere gegen andere Krankheiten. Pépin kam mit seinen Berechnungen zu einer Gesamtzahl von 3,9 Millionen Injektionen allein gegen Trypanosomiasis, davon 74 Prozent intravenös (also nicht in die Muskulatur, sondern unmittelbar in eine Vene); dies ist die beste Methode, um Arzneimittel zu verabreichen, aber auch die beste für die unabsichtliche Übertragung von Viren.
    Diese vielen Spritzen könnten nach Pépins Ansicht ein Grund dafür gewesen sein, dass die Häufigkeit der HIV -Infektionen einen bestimmten kritischen Schwellenwert überschritt. Nachdem das Virus mit den wiederverwendeten Kanülen und Spritzen in eine ausreichende Zahl von Menschen –

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