Spillover
bis 16-mal höher ist als für SIV -negative. Die absoluten Zahlen waren klein, aber der Abstand war signifikant. Infizierte Tiere gingen zugrunde. Außerdem brachten SIV -positive Weibchen weniger Junge zur Welt, und die Säuglingssterblichkeit war größer. Und schließlich zeigten sich bei der Nekropsie von drei Individuen (darunter Yolanda, deren Name aber nicht erwähnt wurde) Anzeichen für einen Lymphocytenverlust und andere Schäden, die an das Endstadium von AIDS erinnerten.
Vorsichtig, aber nachdrücklich äußerten die Autoren die Vermutung, »dass SI V cpz in freier Wildbahn beträchtliche negative Auswirkungen auf die Gesundheit, die Fortpflanzung und die Lebenserwartung von Schimpansen hat«. 162 SIV ist also durchaus kein harmloser blinder Passagier, sondern ein Menschenaffenmörder. Es ist nicht nur unser Problem, sondern auch das ihre.
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Verbreitung per Injektion
Fassen wir noch einmal zusammen, was wir bisher wissen. Die AIDS -Pandemie lässt sich auf ein einziges Zufallsereignis zurückführen. Bei diesem Ereignis handelte sich um den Blutkontakt zwischen einem Schimpansen und einem Menschen. Es spielte sich im Südosten Kameruns um das Jahr 1908 herum ab und führte dazu, dass ein Virusstamm, der heute als HIV -1 Gruppe M bekannt ist, weitergegeben wurde. Dieses Virus war vermutlich schon vor dem Übersprung für Schimpansen tödlich, und mit Sicherheit hatte es danach unter Menschen tödliche Wirkungen. Vom Südosten Kameruns muss es stromabwärts über den Sangha und den Kongo nach Brazzaville und Léopoldville gelangt sein. Und von diesen Schmelztiegeln aus verbreitete es sich über die ganze Welt.
Aber wie verbreitete es sich? Nachdem das Virus der Gruppe M in Léopoldville angelangt war, geriet es offenbar in einen Strudel von Ereignissen, die am Oberlauf des Sangha nicht ihresgleichen hatten. Es unterschied sich biologisch von HIV -2 (weil es sich an Schimpansen als Wirte angepasst hatte), und es unterschied sich aufgrund von Zufall und Gelegenheit (weil es in ein städtisches Umfeld gelangte) auch von den Gruppen N und O . Was sich in Léopoldville während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts abspielte, kann man nur vermuten. Die Dichte der potenziellen menschlichen Wirte, ein großer Männerüberschuss, sexuelle Gepflogenheiten, die ganz anders waren als in den Dörfern, und Prostitution – das alles floss in die Mischung ein. Aber Sex plus Überbevölkerung reicht als Erklärung nicht ganz aus. Eine vollständigere (und vielleicht überzeugendere) mutmaßliche Verkettung von Ereignissen formulierte Jacques Pépin, ein Professor für Mikrobiologie aus Kanada, der in den 1980er Jahren insgesamt vier Jahre an einem Buschkrankenhaus in Zaire tätig war. Pépin war Koautor mehrerer Fachartikel über das Thema und veröffentlichte 2011 ein Buch mit dem Titel The Origins of AIDS . Darin reicherte er seine eigenen Erfahrungen vor Ort und seine Fachkenntnisse als Mikrobiologe mit tief greifenden historischen Recherchen an und gelangte so zu der Vermutung, der entscheidende Faktor auf dem Weg vom verletzten Jäger zur globalen Pandemie sei die Spritze gewesen.
Damit meinte Pépin nicht die Drogen und das Werkzeug, das Süchtige an ihren Fixertreffpunkten untereinander herumreichen. In einem Artikel mit dem Titel »Noble Goals, Unforeseen Consequences« (»Hehre Ziele, unvorhergesehene Folgen«) und dann ausführlicher in seinem Buch verwies er auf eine Reihe gut gemeinter Kampagnen der Kolonial-Gesundheitsbehörden aus den Jahren 1921 bis 1959. Sie verfolgten das Ziel, bestimmte Tropenkrankheiten durch Injektion von Medikamenten zu bekämpfen. So ging man beispielsweise in Kamerun energisch gegen die Trypanosomiasis (Schlafkrankheit) vor. Ihr Erreger ist ein hartnäckiger kleiner Protist namens Trypanosoma brucei , der durch den Stich von Tsetsefliegen übertragen wird. Zur Behandlung verwendete man in jenen Jahren arsenhaltige Wirkstoffe wie Tryparsamid, und die musste man einem Patienten nicht nur einmal spritzen, sondern mehrfach. In Gabun und Moyen-Congo (der damalige Name der französischen Kolonie, die heute Republik Kongo heißt) umfasste der Therapieplan für die Trypanosomiasis in manchen Fällen 36 Injektionen im Laufe von drei Jahren. Ähnliche Anstrengungen unternahm man zur Bekämpfung von Syphilis und Frambösie. Die Malaria behandelte man mit einer injizierbaren Form von Chinin. Leprapatienten mussten sich damals, vor Beginn des Antibiotikazeitalters, einer Reihe von
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