Spillover
klarmachen: Von den Ursprüngen unserer Spezies vor rund 200000 Jahren bis zum Jahr 1804 wuchs die Weltbevölkerung auf eine Milliarde; zwischen 1804 und 1927 nahm ihre Zahl um eine Milliarde zu; drei Milliarden waren 1960 erreicht, und seither dauert es jeweils nur rund 13 Jahre, bis eine weitere Milliarde Menschen hinzukommt. Im Oktober 2011 waren wir bei der Marke von sieben Milliarden angelangt, aber auch dieser Zeitpunkt flog vorbei wie das Schild mit der Aufschrift »Welcome to Kansas« an einer Landstraße. Eine derart gigantische Zahl von Menschen rechtfertigt sicher Berrymans Worte von einer »extremen« Zunahme in einem »relativ kurzen Zeitraum«. In den letzten Jahrzehnten ist die Wachstumsrate zwar gesunken, aber sie liegt immer noch bei mehr als einem Prozent, das heißt, die Zahl der Menschen vermehrt sich jedes Jahr um etwa 70 Millionen.
Damit nehmen wir in der Geschichte der Säugetiere eine einzigartige Stellung ein. Einzigartig sind wir auch in der Geschichte der Wirbeltiere. Wie man an den Fossilien ablesen kann, hat keine andere große Tierart – größer als beispielsweise eine Ameise oder ein antarktischer Krill – jemals auch nur annähernd eine so riesige Individuenzahl erreicht wie die Menschen auf der Erde heute. Unser Gesamtgewicht summiert sich auf mehr als 340 Milliarden Kilo. Alle Ameisenarten zusammen würden eine noch größere Gesamtmasse auf die Waage bringen und Krillkrebse auch, aber ansonsten schafft das kaum eine andere Gruppe von Lebewesen. Und wir sind noch nicht einmal eine Gruppe, sondern lediglich eine einzige Spezies von Säugetieren.
Der angesehene Biologe und Ameisenexperte Edward O. Wilson hat sich hierüber auch schon einmal den Kopf zerbrochen. Seine Rechnung: »So hat der Homo sapiens mit Erreichen der Sechs-Milliarden-Grenze die Biomasse jeder anderen großen Landtierart, die jemals auf der Erde gelebt hat, um ein Hundertfaches überflügelt.« 168
Damit meinte Wilson die wilden Tiere. Nutztiere wie das Hausrind mit seiner derzeitigen Population von ungefähr 1,3 Milliarden berücksichtigte er nicht. Demnach sind wir nur ungefähr fünfmal so zahlreich wie unsere Kühe (und unsere Masse ist insgesamt wahrscheinlich geringer, denn eine Kuh ist beträchtlich größer als ein Mensch). Aber natürlich gäbe es sie ohne uns nicht in so gewaltiger Zahl. Eine halbe Billion Kilo Kühe, die in Ställen gefüttert werden oder in Landschaften weiden, in denen früher wilde Pflanzenfresser ihre Nahrung fanden, sind nur eine Folge des menschlichen Wirkens. Sie sind ein Maß für unseren Appetit, und wir sind sehr hungrig. Wir sind erstaunlich, und wir sind ohne Beispiel. Wir sind ein Phänomen. Kein anderer Primat hat unseren Planeten auch nur annähernd in diesem Umfang belastet. Unter ökologischen Gesichtspunkten ist der Mensch mit seinem Bevölkerungswachstum auf der Erde ausgebrochen wie eine Krankheit.
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Raupenschmelze
Aber Krankheitsausbrüche und plötzliche Massenvermehrungen haben eine wichtige Gemeinsamkeit: Sie gehen irgendwann zu Ende. In manchen Fällen enden sie erst nach vielen Jahren, in anderen recht schnell. In manchen Fällen enden sie allmählich, in anderen schlagartig. Gelegentlich gehen sie zu Ende, um dann wieder aufzuflammen und erneut zu enden, als folgten sie einem regelmäßigen Ablauf. Die Populationen der Ringelspinner und mehrerer anderer im Wald lebender Schmetterlinge scheinen alle fünf bis elf Jahre stark anzuwachsen und dann wieder stark abzunehmen. Eine Ringelspinner-Population in British Columbia zum Beispiel unterliegt einem Zyklus, der sich bis 1936 zurückverfolgen lässt. Der Kollaps am Ende einer Massenvermehrung ist ein besonders dramatisches Ereignis und erschien lange Zeit rätselhaft. Welche Ursachen haben solche plötzlichen und immer wiederkehrenden Zusammenbrüche? Ein Faktor sind möglicherweise Infektionskrankheiten. Wie sich herausgestellt hat, haben insbesondere Viren nach explosionsartigen Populationszunahmen von Waldinsekten eine solche Wirkung.
Als die Raupen 1993 über meinen Wohnort herfielen, wuchs mein Interesse an dem Thema, und ich stellte einige Nachforschungen an. Mir erschien es seltsam, dass sich ein Tier wie dieser Ringelspinner, mit begrenztem Verhaltensrepertoire und Anpassungsvermögen, ein oder zwei Jahre lang ungeheuer stark vermehrt, um dann im dritten Sommer praktisch zu verschwinden. Die Umwelt hat sich in dieser Zeit nicht tief greifend verändert, wohl aber der Erfolg der Spezies innerhalb
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