Spillover
dieser Umwelt. Warum? Es war weder mit Wetterschwankungen noch mit Erschöpfung der Nahrungsvorräte zu erklären. Ich rief beim landwirtschaftlichen Dienst an und löcherte den Berater dort mit meinen Fragen. »Ich glaube, niemand weiß genau, warum es zu diesem Auf und Ab kommt«, sagte er. »Es passiert einfach.«
Da mich diese Antwort weder befriedigte noch überzeugte, fing ich an, mich in die insektenkundliche Fachliteratur einzulesen. Zu den Experten auf dem Gebiet gehört Judith H. Myers, eine Professorin an der University of British Columbia. Sie hat mehrere Fachartikel über Ringelspinner und einen Überblick über Massenvermehrungen bei Insekten veröffentlicht. Unter anderem schrieb sie, die Populationsgröße werde zwar von vielen Faktoren beeinflusst, der zyklische Verlauf jedoch »scheint auf eine beherrschende Kraft hinzudeuten, die sich leicht identifizieren und quantitativ erfassen lassen müsste. In Wirklichkeit hat sich diese Triebkraft jedoch als erstaunlich schwer fassbar erwiesen«. 169 Jetzt aber, so Judith Myers, hätten die Ökologen einen konkreten Verdacht. Und sie beschrieb die sogenannten Kernpolyederviren, die nach dem englischen Fachbegriff nuclear polyhedrosis viruses zusammenfassend als NPV s bezeichnet werden. Diese, so erklärt sie, »dürften die seit Langem gesuchte Triebkraft für die Populationszyklen von Wald-Lepidopteren sein«. Wie Feldstudien gezeigt hatten, bedeutet die Massenvermehrung der Lepidoptera für die NPV s ebenfalls eine explosionsartige Zunahme und für die Insekten einen besonders schwarzen Schwarzen Tod.
Jahrelang dachte ich nicht mehr viel darüber nach. In meinem Wohnort endete die Raupenplage schon 1993 schnell und in aller Stille; im folgenden Sommer war von den behaarten Larven keine Spur zu sehen. Das ist schon lange her. Aber das Ereignis fiel mir während der Vorarbeiten zu diesem Buch wieder ein, als ich in Athens in Georgia unter den Zuhörern einer wissenschaftlichen Tagung über die Ökologie und Evolution von Infektionskrankheiten saß. Die Tagesordnung war gespickt mit Vorträgen über Zoonosen, die von einigen der führenden Forscher und klügsten Theoretiker des Fachgebiets gehalten wurden; ihretwegen war ich gekommen. Es sollte einen Vortrag über das Hendra-Virus und seinen Ursprung bei Flughunden geben, einen anderen über die Übersprungdynamik der Affenpocken und mindestens vier über Influenza. Der zweite Vormittag der Tagung begann jedoch anders. Ich setzte mich höflich auf meinen Platz und lauschte plötzlich gebannt einem Mann namens Greg Dwyer, einem mathematischen Ökologen von der Universität Chicago. Er hatte etwas Koboldartiges an sich, lief auf dem Podium hin und her, sprach schnell und ohne Notizen; sein Thema waren Massenvermehrung und Krankheiten bei Insekten.
»Von Kernpolyederviren haben Sie vermutlich noch nie gehört«, sagte Dwyer. Der Fachausdruck für diese Erreger hatte sich seit 1993 geringfügig verändert, aber dank der Episode mit den Ringelspinnern und dank Judith H. Myers war er mir bereits bekannt. Dwyer schilderte, welche verheerenden Auswirkungen die NPV s auf eine explosionsartig angewachsene Population von Wald-Lepidopteren haben. Insbesondere sprach er über den Schwammspinner ( Lymantria dispar ), auch er ein kleiner, brauner Schmetterling, dessen Massenvermehrungen und Populationszusammenbrüche er seit zwanzig Jahren erforschte. Wie er erklärte, »schmelzen« die Schwammspinnerlarven, wenn sie sich mit NPV infizieren. Ich machte mir keine ausführlichen Notizen, aber das Wort »schmelzen« schrieb ich auf meinen Block. Ebenso schrieb ich mit, was er wörtlich sagte: »Tierseuchen kommen vor allem bei sehr hohen Populationsdichten vor.« Nach einigen allgemeinen Anmerkungen erörterte Greg Dwyer mehrere mathematische Modelle. In der Kaffeepause verwickelte ich ihn in ein Gespräch und fragte, ob wir uns irgendwann einmal über das Schicksal der Spinner und die Aussichten auf eine Krankheitspandemie bei Menschen unterhalten könnten. Klar, sagte er.
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Die Analogie
Es dauerte zwei Jahre, bis es mit den Terminen passte, aber jetzt suche ich Greg Dwyer an der Universität Chicago auf. Sein Arbeitszimmer befindet sich im Erdgeschoss eines biologischen Instituts in der Nähe der East 57th Street und ist mit den üblichen Plakaten und Karikaturen dekoriert, links an der Wand hängt eine lange weiße Tafel. Dwyer ist mittlerweile fünfzig, aber er wirkt jung wie ein netter Doktorand, dessen Bart
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