Spillover
zufällig grau geworden ist. Er trägt eine runde Hornbrille und ein schwarzes T-Shirt, auf dem eine komplizierte Integralgleichung aufgedruckt ist.
Wir setzen uns an seinen Schreibtisch, aber sobald das Gespräch läuft, springt Dwyer auf und schreibt etwas an die Tafel. Also erhebe auch ich mich und stelle mich neben ihn, als ob ich sein Gekritzel aus der Nähe besser verstünde. Er zeichnet zwei Koordinaten, eine für die Zahl der Schwammspinnereier in einem Wald, die andere für die Zeit; daran erklärt er mir, wie Wissenschaftler eine Massenvermehrung quantitativ erfassen. Zwischen den einzelnen Ausbrüchen ist der Schwammspinner so selten, dass man ihn nicht findet. Während der Massenvermehrung dagegen findet man auf jedem Hektar Tausende von Gelegen. Da jedes Gelege aus ungefähr 250 Eiern besteht, entstehen so eine Menge Schmetterlinge. Er zeichnet eine Grafik für das Auf und Ab der Schwammspinnerpopulation in aufeinanderfolgenden Jahren. Die Kurve sieht aus wie ein chinesischer Drache: Seine Rückenlinie wölbt sich nach oben und dann weit nach unten, wieder weit nach oben, dann wieder weit nach unten. Als Nächstes zeichnet er eine Skizze von NPV -Partikeln und erklärt mir, wie sie sich zum Schutz gegen Sonnenlicht und andere Umweltbelastungen verpacken. Jedes Paket ist ein fester Proteinklumpen in Form eines Polyeders (daher der Name) und enthält Dutzende von Virionen, die in dem Klumpen eingebettet sind wie Kirschen in einem Obstkuchen. Dwyer zeichnet weitere Kurven und erläutert mir dabei, wie dieses heimtückische Virus funktioniert.
Die Viruspakete liegen auf einem Blatt, auf dem sie nach dem Tod ihres vorherigen Raupenwirts zurückgeblieben sind. Eine gesunde Raupe kommt fressend ihres Weges und schluckt mit dem Blattgewebe auch die Viruspakete. In der Raupe löst sich das Paket heimtückisch und geordnet auf wie ein Mehrfachsprengkopf, der seine kleinen Bomben über einer Stadt abwirft. Die Virionen schwärmen aus und greifen Zellen im Darm der Raupe an. Jedes Virion wandert in einen Zellkern (was sich ebenfalls im Namen widerspiegelt), vermehrt sich stark und bringt neue Virionen hervor, die dann die Zelle verlassen und wiederum weitere Zellen angreifen. Wenig später ist die Raupe eigentlich nur noch ein kriechender und fressender Beutel voller Viren. Noch sieht sie nicht krank aus. Anscheinend weiß sie gar nicht, wie krank sie ist. »Wenn sie eine ausreichend große Dosis aufgenommen hat«, sagt er, »wandert sie weiter auf den Blättern herum und frisst – aber nach vielleicht zehn Tagen oder zwei Wochen, manchmal sogar erst nach drei Wochen, schmilzt sie auf einem Blatt plötzlich dahin.« Da ist es wieder, dieses Wort, das er auch in Athens gebraucht hat und das besonders eindringlich ist: Sie schmilzt.
Andere Raupen ereilt zwischenzeitlich das gleiche Schicksal. »Das Virus hat sie fast vollständig aufgezehrt, bevor sie schließlich nicht mehr funktionieren.« Erst im Spätstadium des Prozesses, wenn sich die Virionen innerhalb einer Raupe gegenseitig behindern und keine neuen Zellen mehr finden, lagern sie sich wieder zu Päckchen mit Schutzhülle zusammen. Jetzt ist es an der Zeit, die Raupe zu verlassen und weiterzuwandern. Die Raupe ist zu diesem Zeitpunkt ausgezehrt und voller Viren; zusammengehalten wird sie nur noch von ihrer Haut. Aber diese Haut, die aus Protein und Kohlenhydraten besteht, ist zäh und flexibel. Jetzt sorgt das Virus für die Produktion besonderer Enzyme, welche die Haut auflösen, und die Raupe platzt wie ein wassergefüllter Luftballon. »Sie nehmen das Virus auf und machen auf dem Blatt einfach platsch «, sagt Dwyer. Die Raupe löst sich auf, und zurück bleibt kaum mehr als eine Virusschmiere, die unter den beengten Bedingungen einer Schwammspinner-Massenvermehrung wenig später von der nächsten hungrigen Raupe aufgefressen wird. Und so weiter. »Immer kommt eine oder zwei Wochen später ein anderes Insekt und frisst das Blatt«, sagt Dwyer, »und dann macht es platsch .«
Im Laufe eines Sommers spielen sich vielleicht fünf oder sechs Platsch -Generationen ab, fünf oder sechs Übertragungswellen, in deren Verlauf sich das Virus immer weiter in der Raupenpopulation verbreitet. Wenn anfangs vielleicht nur fünf Prozent der Raupen infiziert waren, wächst dieser Anteil im ersten Herbst unter Umständen bis auf 40 Prozent an. Nachdem die überlebenden Raupen in einer Umwelt, in der es immer noch von NPV wimmelt, ihre Metamorphose zum Schmetterling
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