Spillover
Symptome auf. Der Mann arbeitete als Wok-Brater; das Schlachten und Ausnehmen wilder Tiere gehörte zwar nicht zu seinen Aufgaben, aber er hantierte natürlich mit den zerlegten und gewürfelten Teilen. Als er sich in Shenzen unwohl fühlte, fuhr er in eine andere Stadt namens Heyuan und begab sich in das dortige Krankenhaus. Nachdem sich mindestens sechs Klinikmitarbeiter angesteckt hatten, wurde er in ein Krankenhaus in dem rund 200 Kilometer südwestlich gelegenen Guangzhou verlegt. Ein junger Arzt, der ihn im Krankenwagen nach Guangzhou begleitete, infizierte sich ebenfalls.
Wenig später, Ende Dezember und Anfang Januar, traten in Zhongshan, knapp 100 Kilometer südlich von Giangzhou und unmittelbar westlich von Hongkong auf der anderen Seite des Perlflussdeltas, weitere Krankheitsfälle auf. In den nächsten Wochen wurden dort 28 Fälle gemeldet. Bei den Symptomen handelte es sich um Kopfschmerzen, hohes Fieber, Schüttelfrost, Gliederschmerzen, schweren, hartnäckigen Husten, blutigen Auswurf und eine fortschreitende Zerstörung der Lunge: Diese wurde hart und füllte sich mit Blut, und in manchen Fällen führte der nachfolgende Sauerstoffmangel zu Organversagen und zum Tod. 13 Patienten in Zhongshan gehörten zum medizinischen Personal, und mindestens ein weiterer war wieder ein Koch, auf dessen Speisekarte unter anderem Schlangen, Füchse, Zibetkatzen (kleine, entfernt mit den Mangusten verwandte Tiere) und Ratten standen.
Beim Provinzgesundheitsamt von Guangdong fiel die Häufung der Krankheitsfälle in Zhongshan auf, und man schickte Gruppen von »Experten«, die bei Therapie und Vorbeugung helfen sollten. In Wahrheit jedoch gab es – noch – keine Experten für diese rätselhafte, bisher nicht identifizierte Krankheit. Eines der Teams schrieb über die neue Krankheit einen Bericht mit Empfehlungen, in dem sie als »atypische Pneumonie« (kantonesisch feidian ) bezeichnet wurde. 41 Die gleiche vage Formulierung verwendete auch die WHO Wochen später für ihre weltweite Warnung. Eine atypische Pneumonie kann irgendeine Lungeninfektion sein, die sich nicht auf einen der bekannten Erreger (wie zum Beispiel das Bakterium Streptococcus pneumoniae ) zurückführen lässt. Mit diesem so vertraut klingenden Etikett wurde die Einzigartigkeit und potenzielle Gefährlichkeit der Vorgänge in Zhongsan jedoch eher verschleiert als betont. Diese »Lungenentzündung« war nicht nur atypisch; sie war anormal, aggressiv und Furcht einflößend.
Der Bericht mit den Empfehlungen wanderte in die Gesundheitsämter und Krankenhäuser der gesamten Provinz, wurde aber ansonsten geheim gehalten. Er enthielt auch eine Liste charakteristischer Symptome und empfahl Maßnahmen zur Eindämmung der weiteren Verbreitung. Diese Empfehlungen waren nicht umfassend genug und kamen zu spät. Am Ende des Monats begab sich ein Großhändler für Meeresfrüchte, der kurz zuvor in Zhongshan gewesen war, in Guangzhou ins Krankenhaus und löste die Ansteckungskette aus, die sich um die ganze Welt erstrecken sollte.
Der Meeresfrüchtehändler, ein Mann namens Zhou Zuofeng, gilt als erster »Superverbreiter« ( superspreader ) der SARS -Epidemie. Als »Superverbreiter« bezeichnet man einen Patienten, der aus irgendeinem Grund viel mehr Menschen ansteckt als ein typischer Kranker. Während R 0 (die wichtige Variable, die George MacDonald in die mathematische Epidemiologie eingeführt hat) die Durchschnittszahl der Sekundärinfektionen bezeichnet, die zu Beginn einer Epidemie von jeder Primärinfektion verursacht werden, liegt ein Superverbreiter weit über dem Durchschnitt. Eine solche Person ist also in der Praxis ein wichtiger Faktor, den man mit den üblichen Berechnungen unter Umständen übersieht. »Bevölkerungsweite Schätzungen von R 0 können die beträchtliche individuelle Variation der Infektiosität verschleiern«, schreiben J. O. Lloyd-Smith und mehrere Kollegen in dem Fachblatt Nature . Weiter heißt es dort: »Dies zeigte sich während des globalen Auftretens des schweren akuten Atemwegssyndroms ( SARS ) an zahlreichen ›Superverbreitungsereignissen‹, bei denen einzelne Personen eine ungewöhnlich große Zahl von Sekundärfällen infizierten.« 42 Lloyd-Smith und seine Koautoren erläutern, warum das Konzept so wichtig ist: Wenn es Superverbreiter gibt und wenn man sie während einer Krankheitsepidemie identifizieren kann, sollten Eindämmungsmaßnahmen auf die Isolierung dieser Personen abzielen und nicht umfassend und
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