Spillover
über mehr als 150 neue Verdachtsfälle eines schweren, akuten Atemwegssyndroms ( severe acute respiratory syndrome , SARS ) eingegangen; es handelt sich um eine atypische Lungenentzündung, deren Ursache bisher nicht ermittelt wurde.« 39 Die Warnung zitiert Dr. Gro Harlem Brundtland, die damalige Generaldirektorin der WHO , mit den unverblümten Worten: »Dieses Syndrom namens SARS ist jetzt eine weltweite Gesundheitsgefahr.« Sie fügte hinzu, es sollten nun alle zusammenarbeiten, um die Ursache der Krankheit zu finden und ihre Ausbreitung zum Stillstand zu bringen.
Bedrohlich wurde SARS vor allem durch zwei Eigenschaften: Es ist – insbesondere im Umfeld medizinischer Einrichtungen – sehr infektiös, und es ist mit einer viel höheren Sterblichkeit verbunden als die bekannten Formen der Lungenentzündung. Rätselhaft war außerdem, dass der neue Erreger offenbar sehr gut mit dem Flugzeug reisen konnte.
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Das Tor zur Welt
Hongkong war nicht der Ausgangspunkt von SARS , sondern nur das Tor zu seiner internationalen Ausbreitung … aber es lag seinem Ursprung sehr nahe. Das Ganze hatte mehrere Monate zuvor in Guangdong begonnen, der südlichsten Provinz des chinesischen Festlandes mit florierendem Handel und einer charakteristischen Küche; an dieser Provinz hängt Hongkong wie eine Seepocke am Bauch eines Wals.
Die frühere britische Kolonie Hongkong wurde 1997 in die Volksrepublik China eingegliedert, allerdings unter besonderen Bedingungen: Sie behielt ihr eigenes Rechtssystem, ihre kapitalistische Wirtschaft und ein gewisses Maß an politischer Selbstständigkeit. Die Sonderverwaltungszone Hongkong, zu der Kowloon und andere Distrikte auf dem Festland sowie Hongkong Island und eine ganze Reihe weiterer Inseln gehören, grenzt an Guangdong und tauscht mit der Provinz ständig Besucher und Handelsgüter aus. Jeden Tag überqueren mehr als eine Viertelmillion Menschen auf dem Landweg die Grenze. Trotz der einfachen Wirtschaftsbeziehungen und besonderer Besuchsrechte bestehen aber nur wenige unmittelbare Kontakte zwischen der Verwaltung Hongkongs und Guangzhou, der Provinzhauptstadt von Guangdong, die neun Millionen Einwohner hat und und zwei Autostunden von den Grenzübergängen entfernt ist. Die politische Kommunikation wird durch die Zentralregierung in Peking gefiltert. Diese Einschränkung gilt leider auch für die wissenschaftlichen und medizinischen Einrichtungen der beiden Orte, beispielsweise für die Hong Kong University mit ihrer hervorragenden medizinischen Fakultät und das Institut für Atemwegserkrankungen in Guangzhou. Der Mangel an Kommunikation – von dem Widerwillen gegen Zusammenarbeit und den Austausch medizinischen Probenmaterials ganz zu schweigen – führte bei der Bekämpfung von SARS zu Problemen und Verzögerungen. Die Probleme wurden letztlich gelöst, aber die Verzögerungen hatten schwerwiegende Folgen. Als die Infektion erstmals die Grenze von Guangdong nach Hongkong überschritt, gab es so gut wie keine Informationen darüber.
Durch Guangdong fließt der Zhu (Perlfluss), und die Küstenregion mit Hongkong, Macao, Guangzhou, der neuen Grenzmetropole Shenzen, Foshan, Zhongshan und anderen Städten in der Umgebung wird auch als »Perlflussdelta« bezeichnet. Am 16. November 2002 erkrankte ein 46-jähriger Mann in Foshan an Fieber und Atemwegsbeschwerden. Er war, soweit es sich mit epidemiologischer Detektivarbeit feststellen ließ, der erste Fall der neuen Krankheit. Blut- oder Schleimproben von ihm standen später für Laboruntersuchungen nicht zur Verfügung, aber die Tatsache, dass von ihm eine ganze Kette weiterer Fälle ausging (seine Frau, eine Tante, die ihn im Krankenhaus besuchte, der Ehemann und die Tochter der Tante), legt die Vermutung nahe, dass er an SARS litt. Auch sein Name wurde nicht erwähnt; in den Beschreibungen ist lediglich von einem »lokalen Beamten« die Rede. 40 Nur eines fällt im Rückblick an seinem Profil auf: Er hatte bei der Zubereitung einiger Mahlzeiten geholfen, zu deren Zutaten Hühner-, Hauskatzen- und Schlangenfleisch gehörten. Schlangen sind auf den Speisezetteln von Guangdong nichts Ungewöhnliches. Es ist eine Provinz der gefräßigen, nicht gerade zart besaiteten Fleischesser, und die Liste der Arten, die dort als genießbar gelten, könnte man fälschlich auch für die Inventarliste einer Zoohandlung oder eines zoologischen Gartens halten.
Drei Wochen später, Anfang Dezember, traten bei einem Restaurantkoch in Shenzen ähnliche
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