Spillover
unbestimmt auf die gesamte Bevölkerung. Ebenso gilt das Umgekehrte: Wenn man 49 ansteckende Patienten in Quarantäne nimmt, aber einen übersieht, der ausgerechnet ein Superverbreiter ist, sind die Eindämmungsbemühungen gescheitert, und man hat es mit einer Epidemie zu tun. Dieser nützliche Rat wurde aber erst 2005 im Rückblick gegeben – zu spät für den 2003 erkrankten Zhuo Zuofeng.
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Der Giftkönig
Wo Mr. Zhou sich die Infektion zugezogen hatte, weiß man nicht, von Meeresfrüchten aber wahrscheinlich nicht. Fische und Krustentiere wurden nie als mögliche Reservoirwirte für den SARS -Erreger genannt. Zhou betrieb einen Laden auf einem großen Fischmarkt, und möglicherweise überschnitt sich sein Tätigkeitsbereich mit anderen Märkten für lebende Tiere (domestizierte ebenso wie wilde Vögel und Säugetiere). Woher die Infektion auch stammte, sie fasste jedenfalls Fuß, befiel seine Lunge, verursachte Husten und Fieber und trieb ihn am 30. Januar 2003 in das Krankenhaus von Guangzhou. Dort blieb er nur zwei Tage, aber in dieser Zeit steckte er mindestens dreißig Krankenhausangestellte an. Sein Zustand verschlechterte sich, und er wurde in ein zweites Krankenhaus verlegt, das sich auf Fälle von atypischer Lungenentzündung spezialisiert hatte. Als Zhou während des Transports nach Luft schnappte, sich erbrach und Schleim spuckte, steckten sich zwei weitere Ärzte, zwei Schwestern und ein Krankenwagenfahrer an. In dem zweiten Krankenhaus wurde er intubiert, weil man ihn vor dem Ersticken bewahren wollte. Das heißt, ein biegsamer Schlauch wurde ihm durch Rachen, Kehlkopf und Luftröhre bis in die Lunge geschoben, um die Atmung zu unterstützen.
Theoretisch ist die Intubation ein einfaches Verfahren, die praktische Ausführung wird jedoch häufig durch Würgereflex, Speichel und Auswurf erschwert. Bei Zhou gestaltete sie sich besonders schwierig: Er war ein korpulenter Mann, der unter Beruhigungsmitteln stand und Fieber hatte. Wie Thomas Abraham, ein altgedienter, in Hongkong ansässiger Auslandskorrespondent, berichtet, kam es jedes Mal, wenn Ärzte und Krankenschwestern den Schlauch einführen wollten, zu einem Auswurf von blutigem Schleim. »Er spritzte auf den Fußboden, die Instrumente, die Gesichter und Kittel der medizinischen Mitarbeiter.« 43
In dieser Klinik steckten sich 23 Ärzte und Krankenschwestern bei Zhou an, außerdem 18 weitere Patienten und ihre Angehörigen. Auch 19 seiner eigenen Familienangehörigen wurden krank. Irgendwann hatte Zhou beim medizinischen Personal in Gouangzhou den Ruf als »Giftkönig« weg. Er überlebte die Erkrankung, aber viele andere, die sie sich bei ihm – direkt oder auch indirekt über eine lange Ansteckungskette – geholt hatten, kamen ums Leben.
Einer dieser Sekundärfälle war der 64-jährige Arzt Liu Jianlun, ein Facharzt für Nierenheilkunde an dem Lehrkrankenhaus, an dem man Zhou zuerst behandelt hatte. Am 15. Februar, zwei Wochen nach seinem Kontakt mit Zhou, bekam Professor Liu grippeähnliche Symptome; dann schien es ihm wieder besser zu gehen. Nach seiner eigenen Einschätzung ging es ihm so gut, dass er an seinem Plan festhalten und in Hongkong an der Hochzeitsfeier seines Neffen teilnehmen konnte. Am 21. Februar machte er sich zusammen mit seiner Frau in Guangzhou auf die dreistündige Busfahrt; sie überquerten die Grenze, verbrachten den Abend mit der Familie und stiegen dann im »Metropole« ab, einem großen Mittelklassehotel im Hongkonger Distrikt Kowloon, das bei Geschäftsleuten und Touristen gleichermaßen beliebt ist. Sie bekamen das Zimmer 911 gegenüber vom Aufzug in der Mitte eines langen Korridors – eine Tatsache, die für die späteren epidemiologischen Ermittlungen eine zentrale Bedeutung erlangen sollte.
In dieser Nacht ereigneten sich im Hotel »Metropole« zwei folgenschwere Dinge. Der Zustand des Professors verschlechterte sich, und irgendwann musste er (je nachdem, welchem Bericht man glaubt) in dem Korridor in der neunten Etage niesen, husten oder erbrechen. Jedenfalls gab er eine beträchtliche Dosis der Krankheitserreger ab, die ihn selbst krank gemacht hatten – sie war so groß, dass sich mindestens 16 weitere Gäste und ein Besucher des Hotels ansteckten. Damit wurde Professor Liu zum zweiten bekannten Superverbreiter der Epidemie.
Unter den Hotelgästen, die auf dem neunten Stock wohnten, war auch die bereits erwähnte 78-jährige Großmutter aus Kanada. Sie hatte Familienangehörige besucht und dann im
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