Spillover
des Falles geschildert hatten, meldete sich ein Arzt aus dem Singapore General Hospital zu Wort: Er erklärte, es sei seltsam, aber sie hätten einen ganz ähnlichen Fall von atypischer Lungenentzündung – ebenfalls eine junge Frau, die kurz zuvor aus Hongkong zurückgekommen war. Die weitere Nachprüfung ergab, dass es sich bei dem Fall im Singapore General Hospital um Esther Moks Freundin handelte, die mit ihr im Zimmer 938 des Hotels »Metropole« gewohnt hatte. Es war der Augenblick einer beängstigenden Erkenntnis.
Im Laufe der folgenden Tage kamen weitere Patienten mit atypischer Lungenentzündung ins Tan Tock Seng Hospital. Fast alle standen in irgendeiner Beziehung zu Esther Mok. Die Erste war ihre Mutter. Drei Tage später kam der Pastor ihrer Kirche, der Esther im Krankenhaus besucht und mit ihr gebetet hatte, als Patient wieder. Es folgte ihr Vater, der an Husten mit Blut durchsetztem Auswurf litt. Die nächste war ihre Großmutter mütterlicherseits, dann kam ihr Onkel. Mitte des Monats lagen sie alle im Tan Tock Seng. Und als die Häufung in der Familie Mok die Alarmglocken schrillen ließ, erreichte eine weitere unheilvolle Nachricht Brenda Ang. Am Donnerstag, dem 13. März setzte ein Verwaltungsassistent sie in Kenntnis, dass vier Krankenschwestern aus der Station, auf der Mok ursprünglich gelegen hatte, krankgeschrieben waren. Vier kranke Schwestern an einem einzigen Tag – das lag nicht einmal annähernd im Rahmen des Normalen. »Das war für mich der entscheidende Augenblick«, sagt Ang trocken, während ich ihr gegenübersitze und mir Notizen mache. »Von da an ging alles ganz schnell.«
Ähnlich schnell ging es nicht nur am Tan Tock Seng, sondern auf der ganzen Welt, aber das wussten Ang und ihre Kollegen noch nicht. In Genf gab die WHO fast zur selben Zeit ihre globale Warnung vor einem »schweren, akuten Atemwegssyndrom unbekannter Herkunft« heraus. Wenig später waren auch die Beamten im Gesundheitsministerium von Singapur auf dem Laufenden und meldeten, es habe bei ihnen zur gleichen Zeit drei Fälle der atypischen Lungenentzündung gegeben (Esther Mok, ihre Freundin und eine weitere Person), die sich alle in das Hotel »Metropole« in Hongkong zurückverfolgen ließen. Damit fügte sich der Fall Mok in ein viel größeres Bild ein. Offenbar rief irgendjemand aus dem Ministerium den Verwaltungsdirektor des Tan Tock Seng an, und dann wurde eine Zusammenkunft der leitenden Krankenhausmitarbeiter einberufen. Der Direktor, der Vorsitzende des medizinischen Beirates, der Pflegeleiter, Ang als Leiterin der Infektionsbekämpfung und andere, so erzählt Ang, hätten genau in diesem Zimmer gesessen und über die Vorgänge diskutiert. Der Verwaltungsleiter sagte zu ihnen: »Ich glaube, wir haben es mit einer Epidemie zu tun. Wir müssen uns organisieren.«
Leo Yee Sin, ein Arzt, der bereits Erfahrung mit einer Nipah-Epidemie gesammelt hatte, wurde mit der Aufgabe betraut, besondere Bekämpfungsmaßnahmen zu ergreifen. Das Gesundheitsministerium erteilte der Führungsetage des Tan Tock Seng den Rat: Stellt euch auf weitere Fälle ein, denn es wird noch mehr geben – Freunde und Angehörige der ersten Gruppe, bei der wir jetzt die Symptome sehen. Leo Yee Sin brachte seine Leute in Bewegung. Sie bauten außerhalb einer Station ein Zelt für Reihenuntersuchungen auf und installierten dort auch ein Röntgengerät, mit dem sie Verdachtsfälle auf eine Lungenbeteiligung überprüfen konnten. Die meisten Patienten wurden auf allgemeine Stationen verteilt, solche mit besonders schweren Symptomen kamen in die Intensivstationen. Als die erste Intensivstation voll war, wurden zwei weitere in spezielle SARS -Stationen umgewandelt, die ausschließlich der Behandlung neuer Fälle dienen sollten. Isolation und der Ansteckungsschutz des Pflegepersonals waren wichtige Bekämpfungsmaßnahmen, aber immer noch wussten Ang und ihre Kollegen nicht, was sie da eigentlich isolierten. »Man muss bedenken«, sagt sie zu mir, »dass es während der ganzen Zeit noch keine diagnostischen Tests gab.« Damit meinte sie, keine Tests, mit denen man den verantwortlichen Erreger nachweisen konnte – denn diesen Erreger hatte bisher noch niemand identifiziert. »Wir sind ausschließlich epidemiologisch vorgegangen, also danach, ob jemand Kontakt mit einem der Primärpatienten hatte.« Es war ein Blindekuhspiel.
Am Freitag der gleichen Woche, dem 14. März, fand im »Westin Hotel« der seit Langem geplante und sehnlich erwartete
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