Spillover
Rahmen eines Pauschalarrangements der Fluggesellschaft mehrere Nächte zusammen mit ihrem Ehemann im »Metropole« gewohnt. Die beiden hatten das Zimmer 904, wenige Schritte vom Zimmer von Professor Liu entfernt auf der anderen Seite des Korridors. Ihr Aufenthalt überschnitt sich mit seinem nur um eine Nacht – die Nacht des 21. Februar 2003. Vielleicht fuhren sie gemeinsam im Aufzug. Vielleicht begegneten sie sich in der Lobby. Vielleicht bekamen sie einander nie zu Gesicht. Das weiß niemand, nicht einmal die Epidemiologen. Nur eines ist bekannt: Als der Professor am nächsten Morgen aufwachte, fühlte er sich so krank, dass er an keiner Hochzeitsfeier teilnehmen konnte; stattdessen begab er sich ins nächste Krankenhaus. Am 4. März starb er.
Einen Tag nach dem Professor Liu das »Metropole« verlassen hatte, reiste auch die kanadische Großmutter ab. Infiziert, aber noch ohne Symptome, fühlte sie sich wahrscheinlich völlig wohl. Sie trat ihren Heimflug nach Toronto an und trug SARS in die Welt.
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Ausbreitungswege
Eine weitere internationale Verbreitungsroute führte vom Hotel »Metropole« nach Singapur: Dorthin kehrte eine junge Frau namens Esther Mok am 25. Februar mit Fieber zurück, nachdem sie zum Shopping in Hongkong gewesen war. Die vier Nächte zuvor hatte sie mit einer Freundin im Zimmer 938 des »Metropole« gewohnt, ungefähr zwanzig Schritte von Professor Lius Zimmer entfernt.
Zu Hause in Singapur hatte Mok weiterhin Fieber, außerdem bekam sie Husten. Am 1. März konsultierte sie die Ärzte am Tan Tock Seng Hospital, einem großen staatlichen Krankenhaus, das unmittelbar nördlich des Stadtzentrums in neuen, glitzernden Gebäuden untergebracht war. Nachdem sich in der Röntgenaufnahme weiße Flecken auf dem rechten Lungenflügel gezeigt hatten, wurde Mok mit der Diagnose »atypische Lungenentzündung« stationär aufgenommen. Unter anderem wurde sie von Brenda Ang behandelt, einer Oberärztin und Expertin für Infektionskrankheiten, die zu dieser Zeit zufällig auch für die Infektionsbekämpfung am Tan Tock Seng Hospital verantwortlich war. Als Esther Mok mit ihren Beschwerden in die Klinik kam, gab es dort keine besonderen Infektionswarnungen.
»Wir wussten zu jener Zeit nicht, was es war«, sagt Brenda Ang später. Sie hat sich bereit erklärt, mir ein halbes Dutzend Jahre nach den Ereignissen aus dem Gedächtnis von der Geschichte zu erzählen. Sie hat mich zwar gewarnt, ihre Erinnerungen könnten bruchstückhaft sein, aber in vielen Punkten sind sie anscheinend sehr präzise. Wir treffen uns in einem Konferenzraum in einem kleinen Nebengebäude auf dem Gelände des Tan Tock Seng. Der Raum dient sonst für Mitarbeiterbesprechungen und als Seminarraum für Medizinstudenten, die an der Visite teilnehmen. Ang ist eine kleine, resolute Frau und trägt ein lilafarbenes, bedrucktes Kleid. Wegen des medizinischen Datenschutzes nennt sie den Namen Esther Mok nicht, sondern sie spricht von »einer jungen Dame«, die »unsere erste Indexpatientin war«. In ihrer Funktion als Fachärztin für Infektionskrankheiten hat Dr. Ang diese Indexpatientin selbst zu Gesicht bekommen. Ihr Assistent, ein junger Mediziner in der Facharztausbildung, entnahm Mok eine Schleimprobe für die Bakterienkultur. Wie Ang mir erzählt, trug der Assistenzarzt keine Gesichtsmaske. Anfangs benutzte im Tan Tock Seng niemand eine Maske gegen diese Infektion, aber im Gegensatz zu Ang wurde der Assistent krank.
Seine Erkrankung setzte später ein und war mit einigen dramatischen Komplikationen verbunden. Zuvor jedoch hatten Ang und ihre Kollegen es mit Esther Mok und ihrer Lungenentzündung zu tun, die sich weiter verschlimmerte. Die junge Frau wurde zu einer weiteren Superverbreiterin dieser Krankheit, die man bisher weder identifiziert noch mit einem Namen versehen hatte; denn anfangs lag Mok auf einer normalen Station mit eng nebeneinander stehenden Betten, ganz in der Nähe anderer Patienten und der Mitarbeiter, die kamen und gingen. Ein paar Tage später – mittlerweile konnte sie nur noch mit Mühe atmen – wurde sie auf eine Intensivstation verlegt.
Wie Ang mir berichtet, war es ungewöhnlich, dass ein junger Mensch so stark unter einer Lungenentzündung litt – und am Freitag der gleichen Woche, als Ärzte aus anderen Kliniken von Singapur zur wöchentlichen großen Visite ins Tan Tock Seng kamen, präsentierten Ang und ihre Kollegen den Fall zur gemeinsamen Diskussion. Nachdem sie die Symptome und die Geschichte
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