Spillover
aussahen, und aufgrund dieser vorläufigen Befunde (und auch wegen seiner angesehenen Stellung in dem von Respekt geprägten Umfeld der chinesischen Wissenschaft) machten sich die Gesundheitsbehörden in Peking vorschnell die Chlamydien-Hypothese zu eigen. Mindestens ein anderer angesehener chinesischer Forscher äußerte eine abweichende Meinung: Wenn Chlamydien die Ursache waren, so seine Argumentation, müssten die SARS -Fälle auf Antibiotika ansprechen – was nicht der Fall war. Aber dieser Mann arbeitete in Guangdong am Institut für Atemwegserkrankungen, und in Peking mochte man nicht auf ihn hören.
Parallel dazu überprüften die Wissenschaftler in ihren Labors auch eine ganze Reihe anderer Möglichkeiten: Pest, Fleckfieber, Legionärskrankheit, Typhus, mehrere Formen der bakteriellen Lungenentzündung, jahreszeitliche Influenza, E. coli im Blut, Hantaviren aus der Alten und der Neuen Welt und andere. Erschwert wurde ihre Aufgabe unter anderem dadurch, dass sie nicht wussten, ob sie den SARS -Erreger unter den bekannten Mikroorganismen suchen sollten, ob es sich um einen neuen, aber eng mit bekannten Erregern verwandten Organismus handelte, oder ob er völlig neu war.
Darüber hinaus gab es eine weitere potenzielle Kategorie: ein Erreger, der den Tiermedizinern vertraut ist, bislang aber nie Infektionen bei Menschen verursacht hat. Mit anderen Worten: eine neue Zoonose.
Die zuvor beschriebenen Laborverfahren – darunter die PCR zur Suche nach identifizierbaren DNA - oder RNA -Fragmenten in Verbindung mit molekularbiologischen Methoden zum Nachweis von Antikörpern oder Antigenen – sind nur dann nützlich, wenn man nach etwas Bekanntem sucht, oder zumindest nach etwas, das dem Bekannten stark ähnelt. Solche Tests liefern im Wesentlichen eine positive, eine negative oder eine näherungsweise Antwort auf die Frage: Ist es das ? Einen ganz neuen Erreger zu finden, ist weitaus schwieriger. Man kann einen Mikroorganismus nicht an seinem molekularen Profil erkennen, solange man nicht ungefähr weiß, wie dieses Profil aussieht. Dann muss der Wissenschaftler auf eine etwas ältere, weniger automatisierte Methode zurückgreifen: Er muss den Mikroorganismus in Zellkulturen züchten und dann im Mikroskop betrachten.
An der Universität Hongkong, die an einem Berghang hoch über den Wohnvierteln der Innenstadt liegt, war eine Arbeitsgruppe unter Leitung von Malik Peiris mit diesem Verfahren erfolgreich. Peiris, in Sri Lanka geboren und aufgewachsen, ist ein sanfter, nachdenklicher Mann mit dünnem, schwarzem Haar. Er hat in Oxford Mikrobiologie studiert und ist vorwiegend als Influenzaexperte bekannt. 1995, kurz vor der großen Krise mit der Vogelgrippe, war er nach Hongkong gekommen. Jetzt hatte Peiris Grund zu der Vermutung, dass die Vogelgrippe auch die Ursache der neuen Epidemie aus Guangdong sein könnte. »Als Erstes ging uns durch den Kopf, dass das H5N1-Virus möglicherweise die Fähigkeit erlangt hatte, von Mensch zu Mensch überzuspringen«, sagte er 2003 einem Journalisten. 45 Aber nachdem seine Arbeitsgruppe die SARS -Proben auf H5N1 und eine ganze Liste anderer üblicher Verdächtiger getestet hatte, ohne irgendetwas zu finden, neigte sein Team immer stärker zu der Idee, man könne es mit einem ganz neuen Virus zu tun haben.
Nun konzentrierten sich die Wissenschaftler darauf, den Erreger heranzuzüchten. Das bedeutete zunächst einmal, dass man dem rätselhaften Wesen eine Umwelt aus lebenden Zellen bieten musste, in denen es sich vermehren konnte, bis seine Zahl in den Kulturen so groß war und es die Zellen so stark schädigte, dass man die Auswirkungen sehen konnte. Für solche Kulturen nimmt man »immortalisierte« Zelllinien. Solche Zellen vermehren sich unendlich weiter, bis sie durch irgendetwas abgetötet werden. Peiris’ Mitarbeiter boten dem neuen Erreger fünf verschiedene Zelllinien an, die sich bereits mehrfach als geeignet für bekannte Atemwegserreger erwiesen hatten: Zellen aus der Niere von Hunden, Zellen aus Rattentumoren, Zellen aus der Lunge eines abgetriebenen menschlichen Fetus und andere. Aber sie hatten Pech. Nichts deutete auf eine Schädigung der Zellen und damit auf die Vermehrung der Viren hin. Dann probierten sie es mit einer anderen Linie, die aus den Nierenzellen eines Rhesusaffenfetus stammten. Dieses Mal klappte es. Mitte März beobachteten sie in ihrer Affenzellkultur einen »zytopathischen Effekt«, das heißt, irgendetwas vermehrte sich in diesen Zellen,
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