Spillover
freier Wildbahn sehr zugutekommen. Yang Jian, ein anderer Student, kennt das Gelände der Gegend und führt uns zu den Höhlen. Am späten Nachmittag des dritten Tages nehmen wir zu viert ein Taxi zum Stadtrand von Guilin; ausgerüstet mit Netzen und Stangen, gehen wir von dort eine schmale Dorfstraße hinunter. Wenn man höhlenbewohnende Fledermäuse fangen will, macht man sich am späten Nachmittag auf den Weg, damit man die Tiere erwischt, wenn sie zur nächtlichen Nahrungssuche ins Freie kommen.
Während die Sonne trübe hinter dem Smog von Guilin versinkt, stapfen wir unmittelbar außerhalb des Dorfes durch einen Zitrushain, dann über ein Erbsenfeld und eine Brache mit hohem Unkraut. Schließlich steigen wir auf einem schmalen Weg durch ein Dickicht aus Dornen, Lianen und Bambus bergan. Nach kurzer Wanderung gelangen wir an einem Abhang zu einem Loch, das nicht viel größer ist als eine altertümliche Kellertür. Guangjian und Jian klettern hinunter und verschwinden; Aleksei und ich folgen ihnen. Das Loch erweitert sich zu einem kleinen Vorraum, und auf der anderen Seite erkenne ich einen niedrigen Schlitz, der wie das Lächeln des Berges aussieht und weiterführt. Als wir auf dem Bauch hindurchgekrochen sind, stehen wir schmutzig in einer zweiten kleinen Kammer. Nichts für Menschen mit Platzangst. Wir durchqueren auch diese Kammer und rutschen auf dem Hinterteil durch eine weitere niedrige Öffnung und einen schmalen Gang in eine dritte Kammer (ein wenig habe ich das Gefühl, als wäre ich von einer Kuh verschluckt worden und würde durch ihre verschiedenen Mägen wandern). Der Hohlraum wird breiter und tiefer. Wir hocken hoch über dem Boden wie auf einem Fensterbrett im zweiten Stock. In der Luft rund um unsere Gesichter können wir das Flattern der kleinen Fledermäuse spüren.
Überall Fledermäuse, das ist schon einmal gut. Aber wird es uns gelingen, von unserem erhöhten Platz in der Ecke aus welche zu fangen? Mir ist nicht klar, wie das gehen soll. Doch dann spannen Aleksei und Guangjian ein Vogelnetz quer über das Loch, durch das wir gerade hereingekommen sind. Wir sind also in der Kammer eingesperrt, die Fledermäuse aber auch. Die Luft ist mollig warm. Hm, schön. Das Netz hält die kleinen Tiere auf: Fast ohne einen Laut bleiben sie darin hängen wie Fliegen in einem Spinnennetz. Sie können uns nicht entkommen. Wir sind die Spinne.
Aleksei und Guangjian befreien die Fledermäuse schnell aus dem Netz und lassen jede von ihnen in einen Stoffbeutel fallen, den sie mir dann in die Hand drücken. Ich habe die Aufgabe, die Beutel wie Wäschestücke an einem Stab aufzuhängen, den ich waagerecht zwischen den Felsen befestigt habe. Offensichtlich fühlen sich Fledermäuse selbst in einem Stoffbeutel wohler, wenn sie hängen. Jian steht währenddessen auf dem Boden der Kammer, fährt mit einem Schmetterlingsnetz durch die Luft, um weitere Fledermäuse im Flug zu fangen, und flucht leise auf Englisch, wenn es ihm nicht gelingt.
Keiner von uns trägt eine Maske, schießt es mir plötzlich durch den Kopf, und das obwohl wir nach einem SARS -ähnlichen Coronavirus suchen und in dem engen Raum die gleiche Luft atmen wie die Fledermäuse. Mich beschleicht ein ungutes Gefühl. Als ich Aleksei darauf anspreche, sagt er: »Ach, das ist so ähnlich, als wenn man den Sicherheitsgurt nicht anlegt.« Damit meint er wohl, dass unser Verhalten mit einem kalkulierten, annehmbaren Risiko verbunden ist. Wenn man sich absolut vor dem Virus schützen wollte, müsste man nicht nur eine Maske tragen, sondern einen vollständigen Schutzanzug, Handschuhe und eine Schutzbrille, vielleicht sogar einen geschlossenen Helm. Der ganze Anzug müsste unter Überdruck stehen und mit gefilterter Luft gefüllt sein, die von einem batteriebetriebenen Ventilator angesaugt wird. »Sehr praktisch ist das nicht«, sagt Aleksei. »Aha«, sage ich und kümmere mich weiter um die Fledermäuse in ihren Beuteln. In gewisser Weise hat er ja recht. Aber was ist, so denke ich, wenn ich mir SARS zuziehe – ist das vielleicht praktisch?
Im Labor in Guilin organisiert Aleksei die nächsten Aufgaben im Fließbandverfahren: Guangjian kümmert sich um die Fledermäuse, Jian assistiert, und Aleksei selbst greift in heiklen Augenblicken ein; alle drei haben blaue Gummihandschuhe angezogen. Guangjian holt jeweils eine Fledermaus aus ihrem Beutel, wobei er sie sanft, aber fest zugleich anfasst. Er wiegt sie, misst ihre Größe und stellt die Spezies fest,
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