Spillover
während Jian die Angaben aufzeichnet. Rhinopus pusillus. Rhinopus affini. Hipposideros larvatus . Guangjian entnimmt jedem Tier Abstriche aus Mund und Anus und gibt das Material an Jian weiter. Der bricht die Watteköpfe von den Stäbchen ab und lässt sie zur Aufbewahrung in kleine Röhrchen fallen. Dann kommt Aleksei mit einer Kanüle und sticht eine kleine Vene in der Nähe des Schwanzes an – nur ein winziger Stich, der ein oder zwei Tropfen Blut liefert. Wie er mir zuvor erklärt hat, kann man einem so kleinen Tier nicht wie einem Affen oder einem Larvenroller fünf Milliliter mit einer Spritze abnehmen; damit hätte man die arme Fledermaus ausgesaugt. Zwei Tropfen reichen für zwei Proben, die sicherheitshalber unabhängig voneinander auf das Virus untersucht werden. Jian zieht das Blut Tropfen für Tropfen mit einer winzigen Pipette ab und lässt es in ein Röhrchen mit Pufferlösung fallen. Ein vollständiger Satz Blutproben und Abstriche geht nach Shanghai, der andere nach New York.
Die drei Männer arbeiten mit verteilten Rollen routiniert und reibungslos zusammen. Die Routine vermindert die Gefahr, sich mit einer Kanüle zu stechen, eine Fledermaus durch Ungeschicklichkeit oder Verzögerungen unnötig zu belasten oder Daten zu verlieren. Nach der Behandlung werden die Fledermäuse durch das Fenster des Labors im dritten Stock lebend freigelassen – jedenfalls die meisten. Wie so oft, wenn man wilde Tiere fängt und handhabt, ist es zu einigen unbeabsichtigten Todesfällen gekommen. Von den zwanzig gefangenen Fledermäusen sind heute Abend zwei gestorben. Eine davon, ein Exemplar der Spezies Rhinopus pusillus , winzig wie eine Spitzmaus, wurde schon in der Höhle durch einen Schlag mit dem Rahmen von Jians Schmetterlingsnetz getötet. Da man tote Fledermäuse nicht freilassen kann, hat Aleksei entschlossen, sie wenigstens zu sezieren und so viele Daten wie möglich zu gewinnen.
Mir fällt auf, dass der Vergleich mit dem Sicherheitsgurt bei dieser Tätigkeit offenbar nicht gilt: Zusätzlich zu seinen blauen Handschuhen hat Aleksei nun eine N95-Maske angelegt. Dennoch läuft alles sehr undramatisch ab. Nachdem er Brustkorb und Bauchraum der kleinen Fledermaus vorsichtig eröffnet hat, entnimmt er mit einer Kanüle ein wenig Blut unmittelbar aus dem Herzen. Leber und Milz schneidet er heraus und lässt sie in getrennte Röhrchen fallen. Erst später fällt mir der Zusammenhang zwischen den Hufeisennasen und der Entdeckung der Arbeitsgruppe von Wendong Li auf. Rhinopus pusillus gehört zu den mutmaßlichen Reservoirwirten des Virus.
Als Aleksei fertig ist und die Proben gesichert hat, legt er den Kadaver in eine verschließbare Plastiktüte. In dieselbe Tüte kommt auch die zweite tote Fledermaus, nachdem sie seziert wurde. »Was passiert damit?«, will ich wissen. Er weist auf eine Kiste für biologischen Sondermüll, die speziell als Behälter für verdächtiges Material konstruiert wurde.
»Wenn es welche zum Essen wären, kämen sie hier rein«, fügt er hinzu und zeigt auf einen ganz gewöhnlichen Papierkorb. Eine Anspielung auf ein heikles Thema: Wie haltbar sind kategorische Abgrenzungen? Essbare Tiere und unberührbare Tiere, ungefährliche und infizierte Tiere, gefährlicher Sondermüll und einfacher Abfall. Aleksei geht es darum, dass solche Trennlinien, insbesondere in Südchina, willkürlich und nur unvollkommen gezogen werden.
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Glück im Unglück
Abgesehen von den Nachzüglerfällen Anfang 2004 ist SARS nicht wieder aufgetreten – jedenfalls bis jetzt. Die Auswertung der Ereignisse, die sich während der Epidemie von 2003 abgespielt haben, geht auch heute noch weiter. Viele Einzelheiten sind nicht bekannt, und viele Fragen bleiben unbeantwortet. Sind Fledermäuse die einzigen Reservoirwirte des SARS -ähnlichen Coronavirus? Und wenn ja: welche Fledermausarten? Ist das Coronavirus, das bei Rhinopus pusillus nachgewiesen wurde, der unmittelbare Vorfahre des bei Menschen gefundenen SARS - C o V ? Und wenn ja: Wie hat sich der erste Übersprung abgespielt? War es nur eine einzige Übertragung von einer Fledermaus auf einen Larvenroller, oder gab es mehrere derartige Ereignisse? Und vom Larvenroller zum Menschen – wie oft geschah es, wie viele unabhängige Übersprünge fanden statt? Setzte ein Käfig voller infizierter Larvenroller, die nacheinander auf einem Markt verkauft wurden, die Krankheit in verschiedene Richtungen gleichzeitig in Gang? Was geschah im Einzelnen in der neunten
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