Spillover
Enttäuschung ist in der Wissenschaft manchmal das Tor zu neuen Erkenntnissen. Wenn nicht die Larvenroller, was dann? »Nach unserer Hypothese sollte die unbekannte Spezies, die als natürliches Reservoir für SARS dient, weit verbreitet sein.« Also fingen sie an mehreren Stellen im Wald mit Fallen alle Wildtiere, derer sie habhaft werden konnten. Am Ende war es eine bunte Liste: Rhesusaffen und Stachelschweine, Schlangen (darunter mindestens eine Kobra) und Turteltauben, Wildschweine und Hausratten. Auch hier waren die PCR -Befunde fast immer negativ – aber eben nur fast. An drei von 44 Tierarten waren Spuren einer Coronavirus-Infektion zu erkennen. Alle drei gehörten zu den Microchiroptera, auf Deutsch: Fledermäuse.
Aber nur bei einer Art fanden sie eine hohe Virusprävalenz, das heißt, die meisten untersuchten Exemplare dieser Spezies waren im Test positiv; es handelte sich um Miniopterus pusillus , eine zartgliedrige Art aus der Gruppe der Langflügelfledermäuse.
Poon reicht mir eine Kopie des Artikels, den er 2005, ungefähr ein Jahr nach dem großen Gemetzel unter den Larvenrollern, im Journal of Virology veröffentlicht hat (wieder mit Guan und Peiris als Koautoren). Er möchte, dass ich seine Befunde genau verstehe. »Dieses Coronavirus der Fledermäuse unterscheidet sich stark von SARS «, sagt er. Mit anderen Worten: Er behauptet nicht, er habe damit das Reservoir des SARS -CoV gefunden. »Aber immerhin ist es das erste Coronavirus in einer Fledermaus.« Das heißt, er ist auf ein starkes Indiz gestoßen.
Wenig später veröffentlichte ein internationales Team aus chinesischen, amerikanischen und australischen Wissenschaftlern eine noch aufschlussreichere Studie; sie hatten Stichproben in Guangdong und drei anderen Regionen Chinas gesammelt. Zu der Arbeitsgruppe, die von dem chinesischen Virologen Wendong Li geleitet wurde, gehörten auch der wortkarge australische Wissenschaftler Hume Field, der das Hendra-Reservoir gefunden hatte, und zwei Wissenschaftler aus dem Consortium for Conservation Medicine in New York. Anders als die Untersuchung an den Stichproben aus Hongkong konzentrierte sich die von Li gezielt auf Fledermäuse. Die Arbeitsgruppe fing Tiere in freier Wildbahn ein, entnahm ihnen Blut sowie Abstriche von Speichel und Exkrementen und analysierte das Material dann zweimal unabhängig voneinander in chinesischen und australischen Labors. So überprüften die Wissenschaftler sich selbst und sicherten ihre Befunde besser ab. Sie entdeckten ein Coronavirus, das im Gegensatz zu dem von Leo Poon gefundenen Erreger stark dem SARS -CoV aus menschlichen Patienten ähnelte. Deshalb bezeichneten sie es als » SARS -ähnliches Coronavirus«. Wie sich an dem gesammelten Material zeigte, kam das Virus besonders häufig bei mehreren Fledermausarten der Gattung Rhinolophus vor, die auf Deutsch als »Hufeisennasen« bezeichnet werden. Hufeisennasen sind empfindliche kleine Tiere; sie haben große Ohren und eine flache Nase mit großen Öffnungen – hässlich, aber praktisch, weil sie die Ultraschalllaute der Fledermaus in die richtige Richtung lenken. Die Tiere schlafen vorwiegend in Höhlen, von denen es in Südchina eine große Zahl gibt. Nachts kommen sie ins Freie und suchen sich Nachtfalter und andere Insekten als Nahrung. Die vielgestaltige Gattung umfasst ungefähr siebzig Arten. Wie sich in Lis Studie zeigte, tragen insbesondere drei davon das SARS -ähnliche Virus: Rhinolophus macrotis, Rhinolophus pusillus und Rhinolophus pearsonii . Wer diese Tiere auf der Speisekarte eines Restaurants in Südchina ortet, sollte sich vielleicht besser für die Nudeln entscheiden.
Eine hohe Prävalenz von Antikörpern gegen das Virus bei den Hufeisennasen im Vergleich zur Prävalenz null bei wilden Larvenrollern – das war eine wichtige Entdeckung. Es war aber nicht die einzige. Lis Arbeitsgruppe sequenzierte Abschnitte des Virusgenoms aus Exkrementproben. Wie sich bei der vergleichenden Analyse dieser Fragmente herausstellte, zeigte das SARS -ähnliche Virus von einer Probe zur anderen eine beträchtliche genetische Vielgestaltigkeit – sie war größer als bei allen SARS -CoV-Proben, die man aus Menschen gewonnen hatte. Das Virus war also offenbar schon seit einiger Zeit in der Fledermauspopulation zu Hause und hatte sich dort durch Mutationen verändert und auseinanderentwickelt. Die gesamte Vielfalt, die man vom menschlichen SARS -Virus kannte, war in der Vielfalt der Fledermausviren enthalten. Eine
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