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Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherm
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gerne geredet.
    Werner war Musiker und immer ein Nachtschwärmer gewesen. Wenn er zu Hause war, war er sicher auch spät noch wach. Blücherstraße 42, in Kreuzberg, das konnte er um die Zeit in einer Dreiviertelstunde schaffen. Er zog sich hastig an und lief durch die Kälte zur S-Bahnstation.
    Er musste knapp zwanzig Minuten auf die Bahn warten und brauchte bis in die Blücher 42 fast eineinhalb Stunden, weil er an der falschen U-Bahnstation ausstieg und den ganzen Weg durch die Blücherstraße zu Fuß gehen musste.
    Werner war nicht zu Hause. Seine Frau öffnete die Tür vorsichtig einen Spalt weit und musterte Mark mit misstrauischen Augen. Hinter ihr in der Küche lagen Kinderklamotten und Spielsachen auf dem Boden. Sie sah Mark an, als würde sie Ärger wittern. Vielleicht hatte sie ja schon einige Probleme mit ehemaligen Bekannten ihres Mannes erlebt und schaltete deshalb so vehement auf Abwehr. Mark warf an ihr vorbei einen Blick in die Wohnung. Wenn Werner hier leben konnte, dann konnte es nicht mehr der Werner sein, den er früher gekannt hatte. In der Wohnung roch es förmlich nach Spießigkeit und Resignation.
    Mark wurde schlagartig klar, dass er Werner abhaken konnte, dass Werner ihn nicht mehr verstehen würde. Sie hatten zusammen Berlin unsicher gemacht, hatten demonstriert, zusammen auf den Straßen Berlins gekämpft, gegen den Atomstaat, gegen die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf, gegen die Endlager in Norddeutschland, gegen die Atomlobby, gegen den Überwachungsstaat. Aber den Werner, an den er sich erinnerte, gab es nicht mehr. Hier konnte er keine Hilfe mehr finden. Es war entsetzlich, alt zu werden und zu erleben, wie frühere Vertraute all ihre Ideale über Bord warfen. Sicher taten sie das nicht mit Absicht. Sie waren einfach am Leben gescheitert, zerbrochen. Aber im Endergebnis spielte das keine Rolle.
    Auf der anderen Seite gab es die Erfolgreichen, die er schnell aus den Augen verloren hatte und die von seiner Welt nichts wussten. Er war immer ein Außenseiter der Gesellschaft gewesen. Er hatte nie eine Festanstellung gehabt, mit fünfunddreißig garantierten Urlaubstagen, Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld, 36-Stunden-Woche, und nach zehn Jahren Betriebszugehörigkeit 50.000 garantierten Euros an Abfindung. Das war nie seine Welt gewesen. Seine Rentenbeiträge waren marginal. Er hatte nie die Möglichkeit gehabt, er hatte nie das Geld gehabt, sich durch einen gewissen Luxus von den Vorgängen im Land und auf der Welt abzulenken. Er hatte nie das Geld gehabt, um die Augen zu schließen, wie viele es getan hatten und immer noch taten.
    Allen voran Chris Schneider. Chris hatte alle seine Ideale aufgegeben, für Macht und Geld. Vielleicht hatte er zu Anfang noch gehofft, die Institutionen ließen sich von innen verändern. Vielleicht hatte er noch nicht begriffen, welche Macht diesen Institutionen innewohnte, wie stark sie waren, dass gar nicht daran zu denken war, sie von innen auszuhöhlen, sondern dass sie vielmehr die Kraft hatten, jeden, der sich ihnen annäherte, jeden, der ihnen den kleinen Finger gab, bei der Hand zu nehmen und nach ihren Vorgaben zu formen. Chris hatte wohl mit der Zeit begriffen, dass diese Institution BRD nicht unterwandert werden konnte. Zu stark waren die Verflechtungen der Mächtigen, zu stark die Interessen der etablierten Gruppen. Deshalb hatte er wahrscheinlich resigniert und hatte seinen Schmerz über den Verlust seiner Ideale durch Konsum, durch Geld, durch Macht gelindert. Chris war ein Heuchler geworden wie alle anderen, wie die allermeisten der anderen. Das war das Schlimmste, das war schlimmer als Werner, der am Leben zerbrochen war, an zu wenig Geld, an zu wenig Perspektive, an seiner Unfähigkeit, seine Träume zu verwirklichen, egal wie unscheinbar und klein diese Träume auch waren. Werner hatte niemals den Hauch einer Chance gehabt. Er war kein Heuchler, er war nur ein Verlierer. Aber Chris hatte alle Möglichkeiten gehabt. Und er hatte sich für Verrat und Heuchelei entschieden. Dieser Verrat von Chris Schneider war unerträglich. Er durfte das nicht so stehen lassen. Deshalb musste er handeln!
    Er überquerte den Südstern und spazierte ins Innere von Kreuzberg. Hier hatten sie sich kennengelernt, hier hatten sie zusammen gekämpft, Werner und er. Hier hatten sie daran geglaubt, dass sie die Kraft hätten, eine Rolle zu spielen in diesem Land. Hier hatten sie sich geschworen, niemals aufzugeben. Hier war er zum Teil aufgewachsen.
    Das Maybach

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