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Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherm
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Lastenaufzug, der auf der gegenüberliegenden Seite des Gangs bereit stand.
    Sarah versuchte, die Gelegenheit zur Flucht zu nutzen, und rannte Richtung Eingang. Aber zwei der Söldner schnitten ihr den Weg ab, packten sie mit brutalem Griff und schleppten sie zum Aufzug zurück. Die stählernen Aufzugstüren schlossen sich und der Lastenaufzug setzte sich mit einem harten Ruck in Bewegung.
    Als sich die Aufzugtüren nach kurzer Fahrt im Untergeschoss des Kasernengebäudes wieder öffneten, lag ein schier endloser, fahl beleuchteter Gang vor ihnen, der zu beiden Seiten von schweren, eisernen Zellentüren gesäumt war. Wer auch immer ihre Bewacher waren, sie hatten sicher nicht vor, ihnen die Möglichkeit zu geben, mit einem Anwalt zu sprechen. Mit barschen Kommandos trieben sie Sarah und Paul den Gang entlang und sperrten sie in zwei weit voneinander getrennte Zellen.

* * *
    Morgen , morgen ist der Tag, nur noch ein paar Stunden. Mark schreckte aus dem Halbschlaf hoch, als hätte er einen Elektroschock bekommen. Augenblicklich spürte er eine große Angst. Auf seiner Stirn stand kalter Schweiß. Er sah auf die Uhr. Es war erst 22:30 Uhr. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie er eingeschlafen war, nicht mehr an die Stunden davor und nicht an die Minuten vor dem Abtauchen in den Schlaf.
    Es war dunkel im Zimmer. Draußen im Gang brannte Licht. Schemenhaft erkannte er die Dinge um sich herum. Die Wände zeichneten sich nur grob im Halbdunkel. Sie schienen in Bewegung. Unscharf umrandete Löcher huschten darüber hinweg wie eine schnell treibende Wolkendecke, die an einigen Stellen aufriss und den Blick freigab auf eine darunter liegende Welt. Er sah sich eine Waffe abfeuern und schreiende Menschen in Panik durch einen dunklen Gang stürzen. Aus einer Wunde in seiner Brust quoll dunkles dickes Blut. Dann zogen die Wolken weiter. Gesichter tauchten auf und starrten ihn an. Schreiende und lachende Fratzen von Menschen aus seiner Vergangenheit. Der Minister beugte sich lachend über ihn und meinte: »Das hast du davon, du Träumer! Vergiss es! Was du nicht ändern kannst, musst du einfach vergessen. Kick’s aus dem Fenster oder du bleibst für immer ein Narr!« Dann zogen die Wolken weiter und er sah sein Gesicht unter einem fetten Knie in eine Pfütze gedrückt. Und Blut sickerte aus seiner Nase.
    Voller Panik tastete er nach dem Lichtschalter. Als das Licht anging, waren die Visionen mit einem Schlag verschwunden. Die Wände um ihn waren wieder weiß und klar und festgefügt.
    Er ging in die Küche und trank an der Spüle ein Glas Wasser. Es schmeckte lauwarm und schal, aber das Schlucken beruhigte ihn. Mit jedem Schluck, der seinen Magen erreichte, fühlte er sich besser. Er griff sich den Rest einer Brezel, die auf der Anrichte neben der Spüle lag, und fing an, mechanisch zu essen. In seinem ganzen Leben hatte er sich noch nie so kaputt gefühlt. Er hatte das Gefühl, nicht mehr er selbst zu sein. Vielleicht war er kurz davor, den Verstand zu verlieren? Warum nur?
    Er musste unbedingt mit jemandem sprechen, der ihn kannte, der ihm sagen konnte, ob er noch okay war oder ob er nicht mehr richtig tickte, aber mit wem? Dr. Langer war der einzige, mit dem er in den letzten Monaten gesprochen hatte, richtig gesprochen hatte. Dr. Langer kannte ihn. Aber Langer war tot. Und seine Tochter? Die konnte ihm nicht helfen, sie kannte ihn nicht und sie verstand ihn auch nicht. Er ging zum Schreibtisch und blätterte in seinem alten Adressbuch. An manche der Namen konnte er sich gar nicht mehr erinnern. »Bernd« stand da in fetten Buchstaben mitten auf einer der ersten Seiten mit einem dicken Ausrufezeichen. Aber er konnte mit diesem Namen nichts mehr in Verbindung bringen, keine Person, kein Ereignis, nichts.
    Werner, Werner Dreimann. Vielleicht konnte er mit Werner reden. Vielleicht konnte Werner ihm helfen. Er hatte nicht viele Freunde gehabt in seinem bisherigen Leben. Es fiel ihm nicht leicht, Bekanntschaften zu machen und Freundschaften zu schließen. Aber mit Werner hatte er früher viele Abende verbracht, bis Werner eine Frau kennengelernt und sich wahnsinnig verliebt hatte. Das war der Anfang vom Ende ihrer Freundschaft gewesen. Werner hatte sich immer seltener von sich aus gemeldet und sagte die meisten Verabredungen kurz vorher ab. Irgendwann hatte dann auch Mark keine Lust mehr gehabt, diese einseitige Freundschaft weiter zu pflegen. Aber Werner hatte ihn gekannt wie nicht viele Menschen zuvor. Und mit Werner hatte er

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