Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
kein Narr. Auch Flughäfen und Bahnhöfe würde er meiden.
Er hatte sich für ein Fahrrad als Fluchtfahrzeug entschieden. Ein Fahrrad würde niemandem auffallen. Er konnte es am Tag vor der Veranstaltung unbemerkt im Apfelhain des Velodroms abstellen. Als Fahrradkurier getarnt wollte er nach dem Tanz die Stadt Richtung polnische Grenze verlassen. Das konnte gelingen. Wenn er es über die grüne Grenze schaffte, hatte er fürs Erste Luft. In der Kuriertasche konnte er das Nötigste an Ausrüstung mitführen: einen extrem leichten Schlafsack, drei Liter Wasser, Hightech-Nahrungskonzentrate, Entkeimungstabletten, ein Überlebensmesser. Damit konnte er ohne jeden Kontakt bis zu zwei Wochen durchkommen. Wenn es wirklich brannte, auch länger. Richtig gefährlich wurde es erst, wenn er mit Menschen Kontakt aufnahm, und das ließ sich früher oder später nicht vermeiden. Das Risiko, dass einer von ihnen von der Agentur überwacht wurde oder auf ihrer Gehaltsliste stand, war nicht zu unterschätzen.
Die Chancen, dass sein Kalkül, Mark aus dem Feuer zu holen, aufgehen würde, standen vielleicht 80:20 gegen ihn. Von einem der äußeren Plätze der ersten Reihe aus hatte er die drei Agenten im Saal gut im Blick und konnte sie unter Feuer nehmen. Wenn er das Feuer eröffnete, würden ihn die Sicherheitsleute für einen Komplizen der Zielperson halten und wahrscheinlich das Feuer auf ihn eröffnen. Seine Chancen zu überleben waren deshalb realistisch betrachtet nicht gerade hoch. Und selbst wenn er es lebend aus dem Velodrom schaffte, war sein Chance-/Risikoverhältnis beunruhigend. Nüchtern betrachtet lagen seine Chancen danach im Promillebereich. Er wusste zu viel. Sie würden ihn nie davonkommen lassen. Für Mark war die Prognose besser, er wusste so gut wie nichts. Wenn er durch die Maschen fiel, war das kein besonders hohes Risiko für die Agentur. Aber ihn würde man jagen bis zum Ende. Im Velodrom hatte er eine echte Chance. Das Überraschungsmoment lag auf seiner Seite. Mit etwas Glück konnte er diese Station als Sieger verlassen. Auch sein Abgang über den Lieferantentrakt würde klappen, wenn er sich den Weg frei machte. Erst danach wurde es kompliziert.
Und noch ein Risiko gab es. Vielleicht hatte man ihn markiert, vielleicht hatte man ihm einen Sender untergemogelt, um ihn für alle Fälle orten zu können. Er wusste, dass diese Praxis existierte, dass man Agenten mit einem »tag« versah. Er hatte davon gehört ohne dass er wusste, wie es geschah. Deshalb hatte er sich alle Kleider neu besorgt. Und auch seine Waffen und Werkzeuge würde er zurücklassen. Aber was, wenn sie seinen Körper markiert hatten, was, wenn sie ihm einen Sender implantiert hatten, heimlich, bei einer medizinischen Untersuchung oder beim Zahnarzt? Er hatte alle Gelegenheiten, die die Agentur in den letzten Jahren dafür gehabt hätte, vor seinem inneren Auge Revue passieren lassen und war zu dem Schluss gekommen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass er ein »tag« hatte, sehr gering war, so gering, dass er bereit war, das Risiko einzugehen. Er hatte Lust auf den Tanz. Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte er eine Art von Hochstimmung in sich aufkommen. Das war den Einsatz wert. Er fühlte sich endlich wieder am Leben.
* * *
Das Verlassen der Kaserne erwies sich als relativ einfache Übung. Paul und Sarah stellten sich kurzerhand an die Straße, stoppten ein Taxi und fuhren in Pauls Wohnung.
Als Paul die Tür aufschloss, standen sie vor einem unvorstellbaren Chaos. Alle Schränke und Schubladen standen offen. Ihr gesamter Inhalt, Bücher, Papiere, Kleider und Lebensmittel war in der Wohnung verstreut und Pauls verwirrter Vater irrte in einem pinkfarbenen Bademantel, eine Arie aus Carmen singend, von einem Zimmer ins nächste.
Paul war sofort klar, dass für dieses Chaos nicht der ambulante Pflegedienst verantwortlich war, der sich seit ein paar Wochen jeden Vormittag zwei Stunden um seinen Vater kümmerte. Natürlich hatte man seine Wohnung sofort nach ihrer Verhaftung bei GDT auf den Kopf gestellt, um herauszufinden, was er über die geheimen Forschungen bei GDT wusste und ob er irgendwelche Unterlagen aus der Firma geschmuggelt hatte. Ihm war auch klar, dass es nicht besonders klug gewesen war, nach ihrer Flucht hierher zu fahren und dass sie hier auf keinen Fall länger bleiben konnten.
Nach einer schnellen Dusche und zwei Tassen Kaffee im Stehen, stopften sie ein paar Klamotten in eine Reisetasche, zogen Pauls Vater an und
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