Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
sichern. Sie hatten viele Jahre zusammengearbeitet und waren sich dabei auch privat ein Stück näher gekommen. Jetzt musste er diese privaten Dinge vergessen, wenn er Erfolg haben wollte. Er durfte nicht eine Sekunde zögern, wenn es galt, Ole auszuschalten. Er musste ihn töten, es würde nicht genügen, ihn niederzuschlagen und zu fesseln. Das war zu riskant.
* * *
Sarah parkte den Wagen in einer kleinen Nebenstraße direkt an der Seitenfront des grün-blauen Glaspalastes von Gene Design Tech. Es war 3:20 Uhr. Um diese Zeit war dieser Teil der Stadt vollkommen verlassen. Paul überquerte schnell den schmalen Grünstreifen zwischen Bürgersteig und Gebäude. Dann blieb er im Schatten der gewaltigen Fassade stehen und sah sich ihre Konstruktion genauer an.
Von weitem wirkte die Fassade wie aus einem Guss, Glasplatte an Glasplatte gefügt. Aus der Nähe betrachtet war jedes der grün-blau getönten Glaselemente in einen Rahmen aus Aluminium eingesetzt. Die horizontal verlaufenden Aluleisten waren dabei mit einer Kante versehen, die gut einen Zentimeter breit war. Breit genug, um mit den Kletterschuhen und den Fingerkuppen Halt zu finden. Jedes zweite der senkrechten Aluprofile hatte in der Mitte eine Rille, die etwa eineinhalb Zentimeter breit und ebenso tief war.
Paul tastete die Struktur mit den Händen ab. Die Kante ließ sich mit den Fingerkuppen einigermaßen gut greifen. Für seine Five Ten Kletterschuhe war sie geradezu komfortabel. Und auch die vertikale Rille fühlte sich gut an. Ein paar Meter nach oben zu klettern, wäre keine besondere Aktion gewesen. Das Problem war die schiere Höhe der Fassade. Das Gebäude hatte achtzehn Stockwerke. Wenn er jedes Stockwerk zu dreieinhalb Metern rechnete, waren das über sechzig Meter, die er ohne Sicherung vertikal nach oben klettern musste. Ohne mindestens eine Erholungspause war das, in diesem Schwierigkeitsgrad, für ihn unmöglich. Das hatte er nicht drauf. Aber vielleicht passte das kleinste Klemmsicherungsgerät, das er bei sich hatte, ein sogenannter »Friend«, in die vertikale Rille des Aluprofils. Wenn das ging, hatte er eine ziemlich gute Chance.
Zwar würde der Friend bei einem Sturz mit seinen expandierenden Haltesegmenten das Aluprofil mit Sicherheit sprengen und herausbrechen, aber für eine kurze Rast würde er taugen. Wenn er sich mit seinem Klettergurt daran festmachte, verschaffte ihm das zumindest die Möglichkeit, sich für ein paar Sekunden zu erholen und die Muskeln zu entspannen.
Er lief zum Auto zurück und holte sein Kletterequipment aus dem Kofferraum. Klettergurt mit Standschlinge, Schuhe, zwei Karabiner, zwei Expressen, zwei Friends und ein 60 Meter Halbseil. Halbseile waren aus Sicherheitsgründen nur zum Doppelseilklettern zugelassen. Also zusammen mit einem weiteren Halbseil. Aber unter den gegebenen Umständen spielte das nicht wirklich eine Rolle. Er musste Gewicht sparen, das war entscheidend.
An der Fassade zurück, versuchte er probeweise, einen Friend in der Rille des Aluprofils zu verankern. Der Friend passte besser als erwartet. Zumindest brach er nicht gleich beim ersten Belastungsversuch heraus, sondern erst beim zweiten.
Paul blickte nach oben. Die dunkle Masse der Fassade wirkte bedrohlich. Auf ihrer dunkeln Fläche spiegelten sich die Lichter der Nacht. Er versuchte seine Chancen zu kalkulieren. Wenn er in die Fassade einstieg, gab es kein Zurück mehr. Er schaffte es vielleicht hinauf, aber würde er auch wieder herunter kommen? Auf dem Rückweg musste er sich von der Dachkante bis zum Boden abseilen. Dafür reichte das Seil nicht. Beim Abseilen musste er das Seil doppelt nehmen, wenn er es umlenken wollte. Und dann brauchte er zumindest auf halber Höhe eine Möglichkeit, das Seil zu befestigen und umzulenken, damit er es bis zum Boden schaffte. Von seinem Standpunkt aus konnte er nichts dafür Geeignetes an der Fassade erkennen. Aber zur Not konnte er das Ende des Seils ja auch mit einem Achterknoten oben an der Dachkante befestigen. Dann reichte es wahrscheinlich bis zum Boden. Aber dann hatte er keine Möglichkeit mehr, das Seil abzuziehen, und musste es zurücklassen, was er, wenn es irgend ging, vermeiden wollte.
Er schnürte sich das Seil auf den Rücken, schlüpfte in seine Kletterschuhe und nach ein paar Sekunden der Konzentration kletterte er los. Nach ungefähr zwanzig Metern setzte er einen der Friends in die Rille des Aluprofils und ruhte sich aus. Er wagte es kaum, den Friend zu belasten, so dass ihm
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