Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
die Pause kaum Erholung brachte. Deshalb schüttelte er nur kurz die Arme aus und kletterte schon nach wenigen Sekunden weiter. Die Anspannung brannte in seinen Muskeln. Für einen Augenblick ertappte er sich bei dem Gedanken, dass er es nicht schaffen könnte. Aber er schob den Gedanken sofort beiseite und konzentrierte sich noch mehr auf jede Bewegung, auf jeden Zug, den er weiter nach oben stieg. Nach weiteren zehn bis fünfzehn Metern kam er an zwei stählernen Ösen vorbei, die ein paar Meter rechts von ihm aus der Fassade ragten. Er hatte keine Vorstellung, wozu sie dienten. Vielleicht waren sie als Verankerung für Wartungsarbeiten gedacht. Egal, er konnte sie auf alle Fälle beim Abseilen zum Durchfädeln des Seils verwenden – wenn er es schaffte, sie im Dunkeln zu erreichen.
Zentimeter um Zentimeter tastete er sich mit den Spitzen seiner Kletterschuhe auf dem horizontalen Aluprofil nach rechts. Er spürte, wie mit jedem Tritt die Kraft nachließ, mit der sich seine Finger in die Aluprofile krallten. Mit letzter Anstrengung schaffte er es, eine Expresse in eine der Ösen einzuhängen und sich daran festzuhalten. Dann tastete er nach der Standschlinge an seinem Klettergurt, klinkte ihren Karabiner in die Öse ein und ließ sich langsam mit seinem ganzen Gewicht in den Gurt gleiten. Die Öse hielt. Er hatte keine Ahnung, ob sie ausreichend fest verankert war, aber er hatte keine Wahl, er musste eine längere Pause machen.
Mit jeder weiteren Sekunde, die die Öse hielt, wuchs sein Vertrauen in sie. Er würde sie auf dem Rückweg auf alle Fälle zum Abseilen verwenden können. Je mehr er sich entspannte, desto mehr wurde ihm das Irre seiner Situation bewusst. Trotzdem überkam ihn ein plötzliches Gefühl von Freiheit und Glück, als er auf die schlafende Stadt hinunterblickte.
Nach fünf Minuten Pause fühlte er sich wieder stark genug und setzte seinen Weg fort. Das Klettern fiel ihm jetzt ein gutes Stück leichter, weil er seine Technik inzwischen an die Gegebenheiten der Fassade angepasst hatte. Trotzdem war er völlig am Ende, als er endlich die Dachkante erreichte. Mit letzter Kraft packte er das Stahlgeländer, das auf der Dachkante montiert war, und klammerte sich fest. Er spürte, wie seine Muskeln anfingen zu streiken und wusste, dass er nur noch begrenzte Kraft hatte, vielleicht nur noch für Sekunden. In einer letzten, verbissenen Anstrengung zog er sich nach oben und schwang sich über das Geländer aufs Dach.
Er kauerte sich unterhalb des Geländers in den Schatten der Dachbrüstung und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Das Stahlblech der riesigen Lüftungstürme der Klimaanlage glänzte im Dunkeln. Es waren vier Türme, die über das Dach verteilt waren. Genau so, wie sie es auf Google Earth gesehen hatten.
Er überlegte, welcher Turm wohl der Richtige war. Im Internet Café hatte er aus dem Gedächtnis einen Plan der Stockwerke auf ein DIN A4 Blatt gezeichnet. Dabei hatte er versucht, die Gänge, Büros und Labors, soweit er sich an ihre Lage erinnerte, von oben gesehen in den Plan zu übertragen. Jetzt hatte er eine ungefähre Vorstellung der Örtlichkeiten im Kopf. Wie weit es ihm möglich sein würde, diese Vorstellung für die Orientierung im System der Lüftungsschächte zu nutzen, wusste er nicht. Es kam auf einen Versuch an.
Er stellte sich auf die Seite des Daches, die direkt über dem Haupteingang lag, und ging in Gedanken den Weg bis zu Robert Nielsens Labor. Wenn er den Weg richtig nachvollzogen hatte, musste das Labor im Bereich des links vor ihm aufragenden Lüftungsturms liegen. Er sah sich den Turm genauer an.
Ganz oben war ein riesiger Ventilator montiert. Deshalb gab es dort sicher keine Möglichkeit, in den Schacht einzusteigen. Aber an der Basis des Lüftungsturms, dort wo er aus dem Flachdach ins Freie trat, gab es mehrere Luken, die mit einfachen Deckeln verschlossen waren und wahrscheinlich zu Wartungszwecken dienten. Sie ließen sich mit Hilfe eines Inbusschlüssels demontieren. Mit seinem Schweizermesser, das er für Notfälle immer am Klettergurt bei sich trug, brauchte er nur ein paar Sekunden, um einen der Deckel zu öffnen. Er stellte ihn beiseite, schaltete seine Taschenlampe ein und leuchtete in den Schacht. Wie es den Anschein hatte, bestand der Lüftungsturm aus mehreren Schächten, auf denen ein Ventilator saß. Nach der Anzahl der Wartungsluken zu schließen, waren es vier. Er hatte also die Wahl zwischen vier Lüftungsschächten und es war unmöglich
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