Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
stapelten sich hinter seinem Kiosk und fanden nicht den erhofften Absatz. Zwischen ein paar mürrischen, unverständlichen Flüchen schaffte er es aber doch, Sarah den Standort des Süßwarenautomats zu beschreiben. Als sie dort ankam, hatte sie noch zehn Minuten bis zur verabredeten Zeit und ging den Bahnsteig langsam auf und ab. Dabei beobachtete sie die Umgebung des Automaten aufmerksam. Niemand in seiner Nähe bewegte sich so, als würde er auf eine Verabredung warten. Nicht ein einziger, der dem Automaten auch nur die geringste Beachtung geschenkt hätte.
Als es viertel nach sechs war, wurde Sarah langsam klar, dass niemand mehr kommen würde, wer weiß, was die Notiz ihres Vaters zu bedeuten hatte, eine Verabredung war damit augenscheinlich nicht gemeint.
Sie ging noch einmal den Bahnsteig entlang am Automaten vorbei und sah sich das Gerät genauer an. Hinter der Glasfront des Automaten wartete das gängige Sortiment von Schokoriegeln auf Kunden. Neben dem Münzeinwurf klebte ein kleiner gelber Zettel. Sarah trat näher und sah sich den Zettel genauer an. »Sorry, dass wir uns verpasst haben. Bin schon mal vorgegangen Richtung Friedensengel. Komm doch einfach nach!«, stand in krakeligen Druckbuchstaben auf dem Zettel, darunter ein Herz mit Ausrufungszeichen. Konnte das für sie bestimmt sein? Der Zettel sah für Sarah eher aus wie die Nachricht einer Raverin für einen Bekannten. Aber es konnte nichts schaden, einfach mal in Richtung Friedensengel zu marschieren. Wenn sie schon mal hier war, konnte sie ruhig auch ein bisschen spazieren gehen.
Je weiter sie Richtung Zoo ging, desto deutlicher wurden die Spuren der Loveparade. Wummernder Sound erfüllte die Luft. Junge Leute in grellen Outfits bewegten sich in kleinen Gruppen drogenschwer Richtung Zentrum der Musik. Es war unglaublich voll. Was auch immer in der Zeitung gestanden hatte, es stimmte nicht, jedenfalls jetzt nicht, die Wege durch den Zoo waren voll junger Leute in extrem heiterer ausgelassener Stimmung. Als sie das Zentrum der Parade, des Float, wie man es auch nannte, erreicht hatte, war schier kein Durchkommen mehr. Obwohl Sarah eher kein Typ fürs ausgelassene Feiern war, steckte sie die Atmosphäre an. Wie war so etwas in diesem Land möglich? Eine derart ausgelassene und heitere Stimmung hatte sie noch nie erlebt. Das sah aus wie Karneval in Rio. Auf den langsam durch die schier unübersehbare Menge vorrückenden Wagen, die unter dem Sound der gigantischen Boxen vibrierten, tanzten leicht bekleidete Raver ekstatisch der Musik hingegeben. Auf der Straße sah Sarah nur gelöste und lachende Gesichter. Es war unglaublich, wie nah sich die Leute einander fühlten, wie sie miteinander umgingen, sich umarmten, sich aus Wasserpistolen bespritzten oder mit Konfetti um sich warfen. Eine bunt bemalte, schrill gekleidete Masse von Feiernden, die alle glücklich wirkten. »Love is in the air«, wummerte es leicht verzerrt und zuerst kaum erkennbar aus dem Technomusikteppich. Das Motto schwebte durch die Luft und ergriff langsam die Menschen in der weiten Runde. Jeder konnte anscheinend fühlen, wie es sich ausbreitete und die Körper erfüllte und ein großes Lächeln auf alle Gesichter zauberte. Auch Sarah konnte sich diesem Gefühl nicht entziehen und fing einfach an mitzutanzen.
Ein schlaksiger junger Mann in einem weißen T-Shirt im Feinripplook und über und über mit Schmuck behängt schmiegte sich an sie, legte seine Lippen ganz nah an ihr Ohr und flüsterte: »Ich habe Sie mir ganz anders vorgestellt.« Dann bewegte er sich im Rhythmus der Musik wieder von ihr weg. Sarah sah ihn erstaunt und verständnislos an. Der junge Mann bewegte sich lachend wieder auf sie zu, nahm eine der grünen Leuchtketten, die er um seinen Hals trug, und hing sie Sarah um. Dabei schmiegte er sich wieder an sie und sprach trotz der lauten Musik ganz nah und deutlich in ihr Ohr »Ich dachte, Sie sind Historiker oder Psychologe Das haben sie jedenfalls behauptet. Aber was soll’s, ich find’s sehr schön so.«
»Was heißt das? Ist der gelbe Zettel von dir?« Sarah versuchte, genauso deutlich in sein Ohr zu sprechen ohne zu schreien, wie er das getan hatte.
»Ja, habe ich geklebt. Wollte erst mal sehen, mit wem ich es zu tun habe.«
Sarah begriff gar nichts. Der junge Mann nahm sie bei der Hand und zog sie hinter sich her durch die Tanzenden. Als sie den Rand des Float erreicht hatten, hatte die Lautstärke der Musik soweit nachgelassen, dass man sich wieder
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