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Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherm
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wucherndes Krebsgeschwür gemalt. Mark brauchte eine Minute, bevor er seine Augen wieder von dem Bild lösen konnte.
    »Beeindruckend, nicht wahr?!«, sagte der Prediger mit weicher Stimme. Er hatte Mark die Zeit gelassen, das Bild in Ruhe zu betrachten. »Was darf ich dir denn anbieten? Tee, Kaffee, ein Mineralwasser?«
    Mark war immer noch befangen von der seltsamen Atmosphäre und zögerte.
    »Ich heiße übrigens Peter«, lockerte der Prediger die Situation auf und streckte Mark noch einmal die Hand hin. Mark griff danach und erwiderte den Händedruck, noch immer abwesend und fast hilfesuchend.
    »Möchtest du einen Chai? Ich war gerade dabei, einen zu kochen, bevor du geläutet hast«, versuchte Peter, Mark die Entscheidung zu erleichtern.
    Mark nickte. »Ja, Chai ist gut.«
    Peter verschwand in die Küche und Mark sah sich weiter im Zimmer um. Die Einrichtung wirkte sehr gemütlich. Eine Ledergarnitur in warmen, erdigen Brauntönen stand in einem geräumigen Erker, umgeben von großen Pflanzen mit satten dunkelgrünen Blättern. Der Tisch davor war aus makellos poliertem Olivenholz. Bis auf ein winziges, pinkfarbenes Mobiltelefon war er vollkommen leer.
    Peter kam mit zwei Tassen Chai Tee und einem Schälchen Zucker auf einem kleinen Tablett aus der Küche zurück. »Setz Dich doch!«, forderte er Mark auf und wies auf das Sofa.
    Mark reagierte nicht. Wie benommen drehte er sich langsam nach Peter um, blieb aber weiter mitten im Zimmer stehen. Peter stellte die Tassen auf den Tisch und griff dann nach dem Schälchen mit Zucker. »Zucker?«, fragte er mit lauter, energischer Stimme und sah Mark eindringlich an.
    »Ja, bitte, zwei Stück.« Mark ging langsam zum Tisch und setzte sich.
    Peter lies zwei Stückchen Zucker in Marks Tasse fallen. Dann setzte er sich, lehnte sich zurück und sah Mark an.
    Mark wunderte sich. Peter hatte nichts mehr mit dem exaltierten Prediger vom Alexanderplatz gemein. Er wirkte vollkommen entspannt. Seine Augen waren offen und warmherzig. Mark fühlte sich augenblicklich wohl in seiner Gegenwart. Es dauerte nicht lange und die beiden waren in ein völlig zwangloses Gespräch vertieft. Sie redeten über alles Mögliche, über Berlin, über die Ostsee, über Jugend, Freiheit und Freunde.
    Ohne dass er sagen konnte, warum, fühlte Mark sich Peter sehr nahe. Irgendwie waren sie beide auf einer Wellenlänge. Auch Peter vermisste die Freiheit und die Aufrichtigkeit in der modernen Welt. Und er liebte das Buch von Salinger, den Fänger, fast so sehr wie Mark selbst. Sein Lieblingsfilm war »12 Uhr Mittags« mit Gary Cooper. Leidenschaftlich erzählte er Mark einige Szenen aus dem Film. Das Bild des Sheriffs, der um 12 Uhr mittags allein einer Bande von Verbrechern gegenübertritt, entschlossen für Gerechtigkeit einzutreten und für seine Überzeugungen notfalls auch zu sterben, faszinierte ihn. Obwohl Mark sich nie für Cowboys interessiert hatte, ließ er sich von Peters Begeisterung anstecken und hörte seinen Schilderungen vom freien Wilden Westen fasziniert zu.
    »Wie leben wir denn heute? Wir glauben an nichts mehr, haben keine Würde mehr und sind nicht mehr bereit, für irgendetwas einzutreten!« Peter richtete sich auf. Jetzt war er plötzlich wieder der Prediger. »Wir haben keinen Gott mehr! Der einzige Gott für uns ist das Geld! Davor knien wir nieder, dafür sind wir bereit, alles zu tun. Heuchler sind wir! Gedankenlose Heuchler! Sieh dich doch um!«
    Peter war aufgesprungen und ging im Zimmer auf und ab. Mark wusste nicht so recht, was er davon halten sollte. Peter wirkte irgendwie seltsam, fast ein bisschen komisch, wenn er so leidenschaftlich redete, aber irgendwie auch überzeugend. Plötzlich blieb er vor Mark stehen und sah ihm direkt in die Augen.
    »Was hältst du von Waffen?«, fragte er völlig überraschend. »Hast du Angst vor Waffen?«
    Mark war verblüfft über diese Frage. Er wusste nicht, was er davon halten sollte.
    Ohne eine Antwort abzuwarten, ging Peter nach draußen und kam Sekunden später mit einem schwarzen Stoffbündel zurück. Er setzte sich neben Mark, zog einen Revolver aus dem Bündel und legte ihn vor Mark auf den Tisch.
    »Gib mir Deine Hand!« Er nahm Marks Hand und legte sie auf die Waffe. »Wie fühlt sich das an? Spürst du, wie gut sich das anfühlt, spürst du diese Kraft?«
    Mark nahm die Waffe in die Hand und wog sie. Er legte seinen Finger an den Abzug und stellte sich vor, abzudrücken, und mit einem Mal spürte er eine unheimliche

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