Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
diesem Planeten.
Sarah hatte Mühe, das Garagentor hochzuziehen. Bier machte sie einfach verdammt müde. Sie kickte ihre Schuhe in die Ecke und putzte sich im Schnelldurchlauf die Zähne. Als sie endlich unter der Decke auf ihrer Matratze lag, fühlte sie sich schon fast wie zu Hause. Sie hatte jetzt sogar schon Kontakt zu ein paar Nachbarn. Schräge Typen, wie sie fand, aber irgendwo auch sympathisch. Sie setzte sich die Kopfhörer ihres Mp3-Players auf und hörte sich eines der Soundfiles von der SD Card an. Dabei wurde sie wider Erwarten wieder wach und nahm sie sich noch einmal den Inhalt der Schublade vor, die sie aus der brennenden Wohnung gerettet hatte. Vielleicht gab es unter dem ganzen Kram ja doch noch etwas Interessantes.
Sie schüttete den Inhalt der Plastiktüte, in der die Sachen aus der Schublade immer noch verpackt waren, neben sich auf den Boden und breitete sie aus. Sie sah sich die Bankauszüge genauer an, fand aber nichts Auffälliges. Dann nahm sie sich das Taschenbuch vor. »The Catcher in the Rye«, ‚Der Fänger im Roggen’, von J.D. Salinger. Der Titel sagte ihr gar nichts. Sie blätterte es durch. Nichts. Sie drehte jeden Gegenstand noch mal um und ging schließlich den Stapel Restaurantquittungen Quittung um Quittung durch. Nichts. Sie schob den ganzen Kram wieder in den Beutel zurück. Dabei fiel ihr eine Bleistiftnotiz auf der Rückseite einer Restaurantquittung auf, die sie bisher übersehen hatte. »16.07. Süßwarenautomat, Bahnsteig U-Bahn Zoo, 18 Uhr«, stand da. Das war übermorgen! Wow! Ihr wurde heiß. Jetzt war sie vollends in einem Agentenfilm gelandet. Wer würde wohl übermorgen zu dieser Verabredung auftauchen? Ein geheimnisvoller Bote? Oder hatte ihr Vater nur ein simples Date mit einer Frau – oder mit einem Lover? Egal. Eins war klar, sie würde auf jeden Fall hingehen und sich die Sache anschauen.
* * *
»Nueger« stand in roten Druckbuchstaben auf einem Aufkleber, der über das alte Klingelschild geklebt war. Der Aufkleber war so unversehrt, dass er noch nicht lange dort kleben konnte, verglichen mit den anderen Namensschildern, die von der Witterung schon weitgehend ausgebleicht oder durch Graffiti und andere Manipulationen nahezu unleserlich waren. Das Treppenhaus war heruntergekommen und lag weite Strecken über im Dunkeln, weil die Beleuchtung auf den meisten Stockwerken ausgefallen war. Im zweiten Stock, direkt neben dem Treppenabsatz, klebte ein identischer Aufkleber an einer heruntergekommenen Wohnungstür, deren Farbe man wegen der Vielzahl der abgeblätterten Schichten nicht mehr genau bestimmen konnte. Und auch die Wände machten einen verwahrlosten Eindruck, als hätte man auf der Suche nach verborgenen Fresken Schicht um Schicht die alten Anstriche der letzten hundert Jahre abgekratzt.
Mark wunderte sich. Er hatte sich alles ganz anders vorgestellt, hatte mit einem Büro in einem gepflegten Haus gerechnet oder zumindest mit einer freundlichen hellen Wohnung. Aber nichts dergleichen. Als die Tür auf sein Klingeln hin geöffnet wurde, fiel sein Blick in einen verfallenen Flur, dessen Wände nahtlos zum Design des Treppenhauses passten. In Kontrast dazu war der Prediger, den Mark sofort wieder erkannte, makellos gekleidet. Sein eleganter Anzug, unter dem er ein lichtgraues Hemd und eine Krawatte in blau-grünem Ton trug, passte nicht im Geringsten ins Ambiente.
»Hallo! Ich habe gewusst, dass du kommst. Ich habe auf dich gewartet.« Der Prediger streckte ihm entschlossen die Hand entgegen. Mark zögerte und ergriff die Hand nur leicht, fast ohne sie zu berühren. Die Situation verwirrte ihn. Er war sich unsicher, wusste eigentlich nicht, was er hier wollte, und fühlte sich fehl am Platz.
»Komm ruhig rein. Ich weiß, dass es hier wie in der Hölle aussieht. Ich bin gerade erst dabei, mich einzurichten. Aber es wird langsam. Wir haben zumindest schon mal einen Raum fertig.« Er ging voran und führte Mark zu einer Tür am Ende des Gangs. Als er die Tür aufmachte und Mark einen Blick in das Zimmer werfen konnte, war er sprachlos.
Der Parkettboden war frisch versiegelt und makellos. Direkt gegenüber der Tür hing ein riesiges Bild, das überwiegend in leuchtenden Gelb-, Orange- und Blautönen gemalt war. Die strahlenden Farben zogen Marks Blick wie magisch auf sich. Das Bild war abstrakt gehalten und zeigte eine Art Brücke, die aus der Dunkelheit auf eine Insel des Lichts führte, die aus den Wolken auftauchte. Die Dunkelheit war wie ein wild
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