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Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherm
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Kraft. Als Kind war er an einem Sommernachmittag auf einem seiner Streifzüge durch die Wälder in ein Manöver geraten. Plötzlich war ein Panzer direkt vor ihm aufgetaucht und hatte sich mit aufheulendem Motor quer über den Feldweg gewälzt. Das Mahlen der Ketten auf dem Kies und das Dröhnen des Motors hatten ihm entsetzliche Angst eingejagt. Er spürte, wie die Erde unter dem Gewicht des Panzers bebte und ahnte, welche Gewalt in dieser Tötungsmaschine steckte. Noch Minuten nachdem der Panzer verschwunden war, hatte er am ganzen Leib gezittert.
    »Ist das das erste Mal, dass du eine Waffe in der Hand hast?«, fragte Peter.
    »Ja«, antwortete Mark geistesabwesend. »Ich hab als Kind mal ein Luftgewehr gehabt, aber das ist etwas anderes.« Er strich mit der Hand über das kühle, glänzende Metall und erinnerte sich, wie er damals mit dem Luftgewehr auf einen schwarzen Vogel geschossen hatte, der etwa 50 Meter entfernt in einem Kastanienbaum saß. Er war sich damals so sicher gewesen, dass er den Vogel aus dieser Entfernung niemals würde treffen können, aber er hatte sich getäuscht. Das Tier fiel wie ein Stein aus der Baumkrone ins Gras. Er hatte das Entsetzen über seine Tat unmittelbar im Herzen gespürte und sich schuldig gefühlt. So schuldig, dass er in Angst und Panik weggelaufen war. Erst nach einer Stunde hatte er sich wieder soweit beruhigt, dass er zu dem Baum zurückkehren konnte. Er hatte sich unauffällig unter dem Baum nach dem toten Vogel umgesehen, hatte ihn aber im hohen Gras nicht finden können. Danach hatte er nie wieder ein Luftgewehr angefasst.
    Jetzt konnte er wieder diese Erregung spüren. Die Waffe in seiner Hand gab ihm diese erschreckende Macht über Leben und Tod.
    »Hier, das sind keine einfachen Patronen, das sind Hohlspitzgeschosse.« Peter holte eine Schachtel Patronen aus dem Bündel und legte sie neben die Waffe. »Du siehst vorne nur ein kleines Einschussloch – aber hinten fehlt dem Getroffenen das halbe Kreuz. Damit kann man Bäume fällen!« Er öffnete die Schachtel und zeigte Mark eine der Patronen. »Wenn du willst, können wir mal zusammen draußen im Wald schießen.«
    »Ich weiß nicht, vielleicht. Ich glaube, ich muss jetzt gehen, ich war schon viel zu lange hier. Ich wollte Sie, ich wollte dich nicht so lange aufhalten.« Mark wollte weg. Er war verwirrt und fühlte sich bedrängt.
    »Ja, klar. Wenn du magst, kannst du jederzeit wiederkommen. Und die hier läuft nicht weg!« Peter legte seine Hand auf den Revolver. »Wenn du Lust hast, kannst du es jederzeit ausprobieren!«

* * *
    Sarah war eine Stunde früher dran. So hatte sie Zeit, den Automaten zu finden. Am Eingang zur U-Bahn hatte ihr jemand ein rotes Kondom mit einem herzlichen Gruß der Verkehrsbetriebe in die Hand gedrückt. Sie brauchte eine Minute, um den tieferen Sinn dahinter zu checken. Es war Loveparade-Wochenende, man wollte die Raver in den ÖPNV locken und Schlimmeres verhüten. Loveparade, sie hatte öfter davon in der Zeitung gelesen, aber war erstaunt, dass es so etwas noch gab. Der Betrieb um sie herum hielt sich auch in Grenzen. Verstreute Grüppchen von Ravern, die irgendwie verloren wirkten. Sie stoppte an einem Kiosk, um nach dem Automaten zu fragen, jemand der einen Kiosk im Untergrund hatte, kannte sich bestimmt aus. Dabei fiel ihr ein Zeitungsartikel auf: »Loveparade in den letzten Zügen«. Sie überflog schnell die Zeilen: »Klar, wer gibt schon gerne ein Millionengeschäft auf, so lange auch nur die geringste Hoffnung auf Gewinn besteht. Deshalb ist es legitim, dass Berliner Unternehmer und Nightlife-Veranstalter den Patienten Loveparade solange als möglich am Leben erhalten und auf Wiederbelebung hoffen. Aber die letzten Jahre haben bewiesen, dass die Parade ein Auslaufmodell ist. Im Vorjahr kamen nur noch knapp 500.000 Besucher. Trotzdem hat auch dieses Jahr wieder ein Berliner Fitnessstudio- und Nachtclubbesitzer versucht, seinen Traum von der Loveparade zu inszenieren. Es sieht so aus, als würde das gehörig in die Hose gehen. Die Bahn hat einen Großteil der Sonderzüge mangels Nachfrage vom Gleis genommen und von den ersehnten Blechlawinen, die sich über die Autobahnen nach Berlin ergießen, war jedenfalls noch gestern weit und breit nichts zu sehen. Also finden wir uns damit ab, die Zeit bleibt nicht stehen, auch wenn wir ihren Puls nicht mehr fühlen, und sagen Goodbye Loveparade, Sorry Andy.«
    Der Kioskbesitzer hatte eine Scheißlaune. Die Kartons mit Red Bull

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