Spinnefeind
Toten zu durchsuchen? Wie sonst konnte sie an den Zettel gekommen sein? Warum steckte sie Katinka diesen Zettel zu?
»Ist was?«, fragte Hardo.
»Ich«, begann Katinka. Brach ab. Vertrau ihm! Sie holte tief Atem. »Ljubov hat mir ein Blatt Papier zugesteckt«, sagte sie. Sie ging in den Korridor und kramte das Notizbuch aus ihrem Rucksack. »Hier.«
Hardo nahm den Zettel mit einem ungläubigen Gesichtsausdruck entgegen und hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger von sich weg. Seine Lippen bewegten sich, als er lautlos den Geheimtext durchbuchstabierte.
»Was soll das sein? Wo hat sie das her?«
»Angeblich von Falk.«
Der Kommissar runzelte die Stirn.
»Wieder eine Chiffre?«
Katinka nickte. Sie berichtete kurz, was sie über Kryptografie und Kryptoanalyse wusste, ohne zu verraten, dass sie diese Bruchstücke von einem Schüler Falks gelernt hatte.
»Palfy, Palfy«, sagte Hardo. Er nahm ihre Hände und hielt sie fest. So saßen sie einander gegenüber, den Tisch zwischen sich. Katinka schmiegte ihre Wange an seine Finger, als ein durchdringender Pfeifton loslegte.
»Nicht erschrecken, unsere Pizza ist fertig«, sagte Hardo, befreite sich sacht aus ihrem Griff und stellte die Küchenuhr ab. Er servierte die dampfende Pizza und nahm zwei weitere Flaschen Bier aus dem Schrank. »Guten Appetit.«
Sie aßen schweigend. Katinka staunte, wie hungrig sie war. Lange vor Hardo hatte sie ihre Pizza vertilgt. Er legte ihr sein letztes Viertel auf den Teller, und ohne Protest aß Katinka es auf. Hardo stellte die Teller in die Spüle und sagte:
»Du bist ein undurchschaubares Menschenkind.«
»Sollte ich ein Beweismittel unterschlagen?«
Er setzte sich neben sie.
»Gib zu, vor ein paar Monaten noch hättest du den Zettel eher des Nachts auf einem Friedhof dem Leibhaftigen überstellt als mir.«
»Du bist ja auch netter als der Leibhaftige«, brummte Katinka.
»Nett? Na, danke«, sagte Hardo gespielt entrüstet. Er nahm ihr Gesicht in seine Hände. »Willst du?«, fragte er. Seine Stimme klang tief und weich wie Samt.
»Ich müsste vorher was klären«, sagte Katinka.
Er sah alarmiert aus.
»Werden wir dann noch zusammenarbeiten? Ich meine, als Ermittler?«
»Warum denn nicht!« Er lächelte. »Entspann dich. Das hier ist jetzt nicht Arbeit. Es ist …«, er sah durch Katinka hindurch, als könne er die Worte, die er benötigte, an der Wand hinter ihr ablesen. Dann sprach er weiter, aber Katinka hörte nicht mehr zu, denn seine Lippen hinterließen brennend heiße Spuren auf ihren Wangen, ihren Augenlidern, ihrer Stirn. Sie meinte, das Wort ›Liebe‹ gehört zu haben, aber sie war sich nicht sicher.
Da war ein kaum wahrnehmbares Geräusch von auf dem Boden schleifenden Textilien. Schwarze Schatten glitten auf sie zu. Rote Laserpunkte tasteten durch die Finsternis, wurden größer, blendend hell, sie musste die Augen schließen, den Kopf drehen, um ihnen zu entkommen. Sie war gefesselt. Das Rot war nah! Sie spürte eine unvorstellbare Hitze, ihr bewegungsunfähiger Körper wurde zusammengepresst. Im Kampf gegen die Fesseln tat sie sich weh, ihre Haut brannte, sie bekam keine Luft, sie würde sterben –
»Ruhig. Ganz ruhig. Du bist hier bei mir.«
Katinka fuhr hoch. Ihr Herz raste. Sie setzte sich im Bett auf und blickte durch die Lamellen der Jalousien hinaus. Dort war er, der Kirchturm, nur ein grauer Schatten im Dämmerlicht der verklingenden Nacht, aber real und beständig da.
»Katinka!«
Eine warme Hand berührte sie sanft am Arm. Mit plötzlichem Entsetzen bemerkte sie, dass sie nackt war. Sie saß in Hardos Bett, verschwitzt, das Haar nass von den schauderhaften Träumen. Sie musste die Zähne zusammengebissen haben wie einen Schraubstock, so sehr schmerzte ihr Unterkiefer.
»Komm her.«
Sie gab dem Drängen seiner Hand nach und rollte sich neben ihm zusammen.
»Du hast geträumt«, sagte er. »Das ist normal. Wird noch öfter passieren. Aber ich bin ja hier.«
Aus irgendeinem Grund beruhigte sie das nicht. Jetzt kam es ihr seltsam vor, Haut an Haut zu liegen. Er stopfte die Decke um sie fest, als bemerke er ihr Unbehagen.
»Willst du erzählen?«
»Ich … ich kann jetzt nicht.«
»Schon gut.« Er strich ihr über den Rücken. Gänsehaut kroch ihr das Rückgrat hinauf.
Sie wartete, bis er wieder eingeschlafen war, wand sich aus seiner Umarmung, lauschte kurz seinen gleichmäßigen Atemzügen und stand auf. Leise tappte sie zur Tür. Sie fand ihre Sachen im Dunkeln nicht und ging
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