Spinnefeind
musste sie den Kopf freikriegen. Ihre Finger zitterten vor Erschöpfung. Sie stand auf und trat zu dem Polizisten an der Eingangstür.
»Aufgesprengt?«, fragte sie, Hardos Jacke fester um sich ziehend, und deutete auf die Rußsprenkel an der Wand.
»Sauber und effektiv gemacht«, sagte der Beamte.
»Wie lange haben Sie gebraucht, um herzukommen, nachdem in der Einsatzzentrale der Alarm eingegangen war?«
»Vier Minuten.«
»Ganz schön schnell«, sagte Katinka, um ihm eine Freude zu machen. Die Eindringlinge konnten nicht länger als zwei Minuten in der Kanzlei gewesen sein.
»Kann man von außen sehen, dass die Kanzlei an ein Alarmsystem angeschlossen ist?«, fragte Katinka.
»Sicher«, sagte der Polizist. »Hier, sehen Sie den Aufkleber?«
Der schwarze Sticker mit der gelben Aufschrift des Sicherheitsdienstes war durch die Explosion halb zerfetzt, aber noch erkennbar. »Das ist der Zweck der Übung: Einbrecher sollen beim Ausspionieren ihres Ziels abgeschreckt werden.«
»Warum gehört keine Videoüberwachung dazu?«
Der Polizist grinste schief.
»Da hat die Dame an der falschen Stelle gespart, was?«
»Scheibenkleister.«
»Wenn schon, denn schon«, sagte der Grüne freundlich. »Fahndung läuft.«
Katinka nickte ihm zu, nahm sich ihren Rucksack und ging zur Toilette. Auf dem Deckel sitzend probierte sie weitere Schlüsselwörter, LJUBOV, FALKJENS, sie schrieb seinen Namen in umgekehrter Reihenfolge und versuchte KLAFSNEJ. Nichts. Wie konnte sie die Länge des Schlüsselwortes ausfindig machen? Sie erinnerte sich, dass Valente davon gesprochen hatte. Nachdenklich wusch sie sich die Hände und ging wieder zur Anmeldung. Der Polizist guckte misstrauisch zu ihr herüber. Sie besaß zwei Möglichkeiten. Sie könnte Ljubov vertrauen und die Existenz des Geheimtextes für sich behalten. Damit würde sie ein Beweismittel unterschlagen. Oder sie konnte das Wort abschreiben und Hardo den Zettel geben, mit dem Hinweis, woher sie ihn hatte.
Katinka hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie tun sollte.
6. Vertrauen
Hardo schaltete den Elektroherd an und nahm zwei Pizzen aus dem Gefrierfach. Sie saßen in seiner winzigen Küche an einem noch winzigeren Tisch. Es war weit nach Mitternacht. Katinka blickte auf den stummen, roten Kirchturm.
»Bier?«
Katinka nickte. Sie brauchte etwas, um sich zu beruhigen. Seit letztem Herbst hatten sie und Hardo nicht mehr miteinander geschlafen. Dabei war es schön gewesen. Doch irgendwie hatten sie nicht den Mut aufgebracht, sich aneinander zu gewöhnen. Was, wenn sie nicht mehr ohneeinander leben konnten oder wollten? Wie sähe der nächste Schritt nach der ersten, unverbindlichen Annäherung aus? Was Britta zu ihren chaotischen Gedanken sagen würde … Katinka war nervös. Die Schmetterlinge flatterten nicht in ihrem Bauch, sondern im Herzmuskel. Ihr Kopf war mit zwei Gedanken beschäftigt. ›Ich kann nicht‹ war der erste, ›ich würde aber gern‹ der zweite. Und schon kam wieder der erste. Und der zweite. Und immer so weiter, ein Ring ohne Anfang und Ende. Sie nahm dankbar das Bier entgegen und trank.
»Das ist doch was anderes als Ljubovs Tee«, sagte sie.
»Tee«, sagte er, »trinkst du doch nur, wenn du krank bist.«
So weit war es also, dass er ihre intimen Vorlieben kannte. Sie schwiegen. Der Herd rauschte verhalten. Durch das geöffnete Fenster huschten Mücken und Nachtfalter herein. Es war immer noch sehr warm. Allmählich mischte sich der Geruch nach Pizza mit dem sommerlichen Duft. Katinka betrachtete Hardos Gesicht. Sie vertraute ihm. Gerade jetzt, in diesem Moment, in der engen Küche, wurde ihr bewusst, dass es keinen Menschen auf diesem Erdball gab, dem sie mehr vertraute als ihm. Ihr eigenes Vertrauen in Tom war missbraucht worden. Sie war nicht ganz unschuldig daran, aber Betrug und Verrat wucherten wie faulige Pilze in ihrem Innern. Außerdem musste sie an Ljubov denken. Sie sah sie vor sich, die Lesebrille auf der Nasenspitze. Konnte sie der Anwältin trauen? Was sollte dieser Ortstermin in der Kanzlei? Die aktivierte Alarmanlage, die stickige Luft, Ljubovs Weigerung, ein Fenster zu öffnen? Sie muss etwas geahnt haben, dachte Katinka und sah auf Hardos Hände, die sich am Bierkrug kühlten. Er nahm einen Schluck und sah sie aus seinen gletschergrauen Augen an. Katinka fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Kam der Zettel mit dem eigentümlichen Geheimtext wirklich von Falk? Wie konnte Ljubov die Kaltblütigkeit aufbringen, die Taschen des
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