Spinnefeind
nackt in die Küche. Unter dem Wasserhahn spülte sie ihren Bierkrug aus und füllte ihn mit Wasser. Das Fenster stand noch offen. Die kühle Nachtluft ließ sie frösteln. Sie trank den ganzen Krug leer und füllte ihn neu.
Wenn sie Ljubov doch trauen könnte. Wie sehr wünschte man sich, vertrauen zu können, und wie entsetzlich war die Erkenntnis, betrogen zu werden. Ljubov war ihr sympathisch, und das machte die grauen Gefühle nicht besser. Durstig trank sie ein paar Schlucke und stellte den Krug ab. Mit dem kalten Wasser im Bauch fror sie noch mehr. Sie setzte sich auf die Küchenbank. Sollte Falk beabsichtigt haben, ihr und der Anwältin eine Nachricht zukommen zu lassen? Eine so kurze, aus 22 Buchstaben? Fast so viele Buchstaben wie das Alphabet hat, dachte Katinka. Warum konnte er nicht frei von der Leber weg ausspucken, was er loswerden wollte? Warum zum Teufel war Falk in diesem letzten Gespräch nicht zum Kern der Sache gekommen? Ein Satz aus 22 Buchstaben sollte doch auszusprechen sein, selbst wenn man noch so aufgewühlt war. Katinka rieb sich die Kaumuskeln. Sie fühlten sich hart wie Eisen an. Der Traum … die Laserpunkte, das rote Glühen, die Schatten … nur nicht mehr daran denken. An etwas Schönes denken, an die Arbeit, an das, was sie als Nächstes tun würde. Herausfinden, wer die anderen Schüler in Falks AG waren. Am besten über die Schulsekretärin. Hardo würde das Gleiche tun. Verdammt, hier drohten die ersten Komplikationen. Sie ahnte die verbissenen Debatten, die folgen würden. Nicht dein Fall, Palfy, vergiss es, hier ermitteln die Behörden. Katinka ließ die Hände sinken. Außerdem brauchte sie Valentes Hilfe. Sie könnte ihm den Geheimtext zeigen und ihn bitten, ihn zu knacken. Ob er das schaffte? Wenn sie nur die Chiffre hätte, die bei der toten Doris Wanjeck gefunden worden war! Waren beide vergleichbar codiert? Nach derselben Methode, vielleicht mit demselben Schlüssel?
Auf dem Gang knisterte etwas. Katinka wurde starr. Sie drehte den Kopf und sah zur Küchentür.
»Katinka?« Hardo streckte den Kopf herein. »Wo steckst du denn!«
Plötzlich fühlte sie sich schutzlos. Sie zog die Beine an und umklammerte die Knie.
»Ich hatte Durst.«
Er trat zu ihr und strich ihr über Schultern und Rücken.
»Du bist eiskalt.«
»Meine Klamotten habe ich im Dunkeln nicht gefunden.«
»Komm. Ich habe schon einen Schrecken gekriegt und gedacht, du wärst in die Nacht dort draußen verschwunden.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein.« Unvermittelt kamen ihr die Tränen. »Nein.«
Er sagte nichts weiter, sondern hob sie hoch und trug sie ins Schlafzimmer. Ausgestreckt neben ihm unter der Decke, gewärmt von seiner Haut, seinen Händen und seinem Atem, schlief sie ein.
»Sie müssen verstehen, dass wir Außenstehenden keine Informationen über unsere Schüler geben«, sagte Märthe Stürmer.
»Ich brauche keine Informationen über Schüler, sondern lediglich die Namen der Teilnehmer an der Kryptoanalyse-AG.«
Märthe Stürmers Begeisterung für Katinka und ihren Beruf schien sich in Nebel aufgelöst zu haben.
»Tut mir leid«, sagte sie knapp, »aber da ist nichts zu machen.« Entschlossen legte sie auf.
Blöde Tussi, dachte Katinka wütend und warf einen Blick auf die Uhr. Viertel nach acht. Sie hätte Valente fragen können, aber den Jungen brauchte sie noch für Nachhilfe in Kryptoanalyse, sie wollte ihn nicht an allen Fronten ausquetschen wie eine Zitrone. Charly Niedorf fiel ihr ein, und sie rief ihn an.
»Die Teilnehmer am Krypto-Kurs?«, wunderte er sich. »Wozu brauchen Sie die denn?«
Katinka suchte fieberhaft nach einer Begründung. Schließlich schien ihr die Wahrheit am einfachsten. Immerhin hatte die Polizei die Neuigkeit heute Morgen an die Presse gegeben.
»Jens Falk ist gestern Abend ermordet worden.«
In der Leitung blieb es eine Weile still, dann flüsterte Niedorf:
»Um des heiligen Himmels …« Er ließ den Satz unvollendet.
»Genau meine Meinung«, sagte Katinka. »Wer außer Hannes und Valentin Kazulé ist da noch dabei?«
»Warten Sie mal, ob ich alle Jungs jetzt zusammenkriege«, murmelte Niedorf. Im Hintergrund rumpelte etwas. »Ich muss mich erst mal setzen. Wer hat das gemacht? Wer hat Falk umgebracht?«
Katinka schrieb das Wort ›wer‹ auf ihren Zettel. Die meisten, die mit Todesnachrichten konfrontiert wurden, fragten zunächst nach dem Warum und zerbrachen sich später den Kopf, wer der Schuldige sein könnte. Charly Niedorf begann
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