Spinnefeind
seit vergangenem Donnerstag weg. An dem Tag hätte er seinem Vater eine Postkarte schicken müssen, damit sie wie üblich am Freitag ankommt. Das hat Hannes nicht gemacht, weil er nicht dazu kam.«
»Klar.«
»Ein paar Stunden mehr oder weniger, in denen hier nichts unternommen wird, machen also nichts aus.«
»Nicht unbedingt«, sagte Hardo.
Sie hörte das Zögern in seiner Stimme.
»Niedorf will, dass ich bei Kaminsky in München vorbeischaue«, sagte Katinka.
»Wenn du etwas brauchst, rufst du an, klar?«
Katinka verdrehte die Augen.
»Pass auf dich auf«, sagte er, die Worte nebeneinanderlegend, als spiele er vier Asse aus. »Bitte.«
»Mache ich.« Sie lachte verlegen. »Tschüss.«
Sie steckte das Handy weg und sah eine Weile in die Ferne. Anja war Hannes’ Freundin. Es wäre zu blöd, sich ihre Kooperation nicht zu sichern. Das Mädchen antwortete nach dem zweiten Klingeln.
»Katinka Palfy hier. Kannst du sprechen?«
»Ich bin heute nicht in die Schule gegangen«, sagte Anja.
Stimmt, dachte Katinka, mit 18 wird alles unbeschwerter, man kann sich die Entschuldigungen selbst schreiben.
»Hannes ist nicht in seinem Ausweichquartier. Ich bin auf deine Mitarbeit angewiesen.«
»Die Polizei sagt, der Fall geht Sie nichts an.«
»Hannes’ Vater hat mich beauftragt, nach seinem Sohn zu suchen, und du als seine Freundin bist meine erste Ansprechpartnerin.«
Das schien Anja zu schmeicheln.
»Was meinen Sie damit, dass Hannes nicht in seinem Quartier ist?«
»Die Wohnung, in der er sich versteckt hielt, ist leer. Jemand hat sämtliche Schränke durchwühlt und ein ziemliches Chaos angerichtet.«
»Und … Hannes?« Nun klang Anjas Stimme schrill.
»Er ist wohl rechtzeitig abgehauen, denn sein Rucksack ist nicht in der Wohnung. Hilf mir. Gibt es Plätze, Städte, Orte, wo ihr einmal gemeinsam wart, wo er sich sicher fühlen könnte?«
Anja dachte nach.
»Mir fällt nichts ein«, stöhnte sie schließlich. »Wirklich nicht.«
»Denk drüber nach. Wenn du eine Idee ausbrütest, rufst du mich sofort an, egal zu welcher Uhrzeit!«
»Mache ich«, sagte Anja.
»Noch etwas: Steht Hannes auf Latschenkiefer?«
»Worauf?«
»Badezusatz, der nach Kiefernwald riecht. Oder auf Franzbranntwein?«
»Nein! Nicht, dass ich wüsste. Warum …?«
»War nur so ein Gedanke. Wie ist Hannes’ Verhältnis zu Vollbädern?«
»Was meinen Sie denn damit?«
Katinka fragte sich allmählich, ob die Rückfragerei eine Technik war, mit der Anja sich die Umwelt vom Leib hielt.
»Badet Hannes gern, oder duscht er lieber?«
»Er duscht. Er badet nie. Nicht in der Badewanne.«
Katinka verabschiedete sich und beendete das Gespräch.
»Ich finde nichts«, sagte Fürlitzer.
Katinka hatte ganz vergessen, dass er auch noch da war.
»Keine handschriftlichen Aufzeichnungen, nichts Persönliches. Nicht einmal ein Bild von seiner Freundin.«
»Kennen Sie Anja?«
»Nein. Er hat mir von ihr erzählt, als er nach Bruck kam und ich ihn hier ablieferte. Die Trennung von ihr fiel ihm schwer. Das ist in dem Alter ein Drama.«
Für Leute über 30 auch, dachte Katinka. In ihrem Bauch machte sich ein Schmerz bemerkbar, Sehnsucht, wie eine immer unförmiger werdende Kugel.
»Die Postkarte an Charly«, sagte Fürlitzer und rollte die Schultern, um sich zu entspannen, »hätte Hannes auch anderswo abschicken können. Es gibt überall Briefkästen.«
Katinka überlegte fieberhaft. Damit hatte Fürlitzer zweifellos recht. Bedeutete es, dass Hannes an einen Ort geflohen war, an dem er nicht aus dem Haus konnte oder keine Postkarten auftrieb? Was könnte das für ein Ort sein?
»Ich fahre nach München ins Kultusministerium«, sagte sie. »Wissen Sie, wo das ist?«
Ihr Handy klingelte, ehe Fürlitzer antworten konnte. Unbekannter Anrufer.
»Palfy?«
»Du musst vorsichtig sein.«
»Wer spricht da?« Ihr Herz schlug nicht mehr in der Brust, sondern im Hals.
»Pass auf, was du tust. Noch ist es nicht zu spät.«
Die Stimme quakte und hinterließ ein Geräusch wie ein Hintern auf dem Boden einer Badewanne.
»Sagen Sie mir Ihren Namen und von wo Sie anrufen.«
Ein leises Lachen, und die Verbindung war unterbrochen. Katinka ließ das Handy sinken und starrte auf das zerstörte Bettsofa. Ihre Hände zitterten.
»Was ist?«, fragte Fürlitzer und kam näher. Er schwitzte. Katinka griff sich an die Kehle und schluckte ein paar Mal. Es war unerträglich stickig in dem Apartment.
»Keine Ahnung. Jemand, der mich anweist, vorsichtig zu
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