Spinnefeind
Kellnerin.
Die ihn auf dem Laufenden halten?, dachte Katinka. Wenn ich mich nicht irre, hat Kaminsky hier seinen ersten Fehler gemacht. Sie bestellte einen Milchkaffee.
»Sie wollen mit mir über den Prozess sprechen«, kam Kaminsky zur Sache. »Das alles ist 16 Jahre her. Sie müssen verstehen, dass ich mich nicht mehr an alles erinnere, aber einige der Demütigungen, die ich damals ertragen musste, habe ich nicht vergessen.«
Demütigungen ertragen. Er? Katinka rief sich zur Räson. Es konnte sein, dass Kaminsky unschuldig war. Es gab keine Beweise. Sie neigte dazu, ihm nicht zu glauben, aber sie wusste, dass ihre vorgefasste Meinung auf einer Mixtur aller möglichen Gefühle und Überzeugungen basierte. Bei Sexualdelikten war sie nicht objektiv. Kein Mensch war je objektiv.
»Diese Schülerin war ein schwieriges Mädchen. Sie mochte mich nicht. Sah sich als etwas Besonderes. Als Lehrer muss man da manchmal …«
Er unterbrach sich, weil die Getränke kamen, und nahm den Gedanken auch nicht mehr auf, als er seinen Orangensaft in einem Zug zur Hälfte ausgetrunken hatte.
»Warum war sie ein schwieriges Mädchen?«
»Renitent, frech, übermäßig entwickeltes Selbstbewusstsein.« Er schwieg und sah aus dem Fenster. »Ein herrlicher Tag, nicht wahr?«
»Was ist ein übermäßig entwickeltes Selbstbewusstsein?«
Kaminsky lächelte nachsichtig.
»Pädagogen begegnen diesem Phänomen naturgemäß sehr häufig. In der Pubertät entwickeln Jugendliche ein Gefühl von Omnipotenz, meinen, die Welt gehöre ihnen und sie hätten jedes Recht, die Wirklichkeit zu ihren Bedingungen zu ändern.«
Das ist doch eher deine Art, die so denkt, dachte Katinka, während sie in ihrem Kaffee rührte.
»Dieses Mädchen hatte zeitweise die Bodenhaftung verloren. Sie hielt mich für ein Monster, weil ich bei der Interpretation der Lektüretexte ihre Fantastereien nicht mitmachen wollte.«
»Könnten Sie konkreter werden?«
»Die Schüler müssen lernen, literarische Texte anhand dessen zu interpretieren, was in den Texten steht, und nicht anhand dessen, was die Schüler sich einbilden, dass da stünde. Werkimmanente Interpretation, falls Ihnen das was sagt.«
Seine Zuvorkommenheit ließ nach. Er sonderte Spitzen ab und eine Herablassung, die ihn selbst erheiterte, denn er lächelte breit und entblößte eine Reihe grauer Zähne.
»Wann wurden Sie Mitglied bei den Cavalieri ?«
Nun erschrak Kaminsky. Er vertuschte es, aber nicht gut genug. Sie hatte ihn.
»Mitglied – wo?«, fragte er.
»Waren Sie schon Cavaliere , als Anklage gegen Sie erhoben wurde?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« Schweiß lief seine Schläfen hinab.
»Wenn Sie schon Cavaliere waren«, sagte Katinka, »dann könnte dies in der Konsequenz dazu führen, dass der Fall neu aufgerollt wird. Eine Notiz an die Staatsanwaltschaft würde reichen.« Das klang gut, obwohl sie sicher war, dass der Prozess nur dann wiederaufgenommen würde, wenn man Kazulés Befangenheit nachweisen konnte. Seltsam; zu drohen erzeugte das Gefühl von Macht. Sie trank einen Schluck Kaffee und musterte Kaminskys Stirnfalten.
»Werden Sie Minister?«, fragte sie.
Er lachte.
»Aber, Frau Palfy. Das habe doch nicht ich zu entscheiden.«
Aber du hast die Fäden vorher gesponnen, an denen man dich auf die Bühne hievt, dachte Katinka. Sie nickte ihm zu, ließ ihren Kaffee stehen und ging.
Der Schweiß brach ihr aus, als sie die Treppen im Parkhaus hinaufstürmte. Doris Wanjeck war in einer Tiefgarage ermordet worden. Wer war der unbekannte Anrufer? Warnte Kaminsky sie? War das alles ein Hirngespinst? Eine vermeintliche Verschwörung gegen Falk, ein Ritterbund, der aus der Renaissance übriggeblieben war, zwei karrieregeile Beamte? Ihr Mund wurde ganz trocken, sie musste husten. Rasch stieß sie die Tür zum Parkdeck auf. Blödsinniger Hustenanfall, als ob sie Staub in den Lungen hätte. Die schwere Tür schlug hinter ihr zu. Katinkas Gesicht brannte. Schweiß rann in ihre Augen. Das Handy steckte in ihrer Hosentasche und klingelte gedämpft.
»Palfy?«
Sie lief um die Mauer des Treppenturmes herum und sah endlich ihr Auto am anderen Ende des Decks.
»Hier ist Anja. Ich habe ›Lampen!‹ nachgeschlagen. Das ist ein Ausdruck aus dem Rotwelschen. Es bedeutet: ›Achtung, Gefahr.‹«
»Rotwelsch?«
»Eine Gaunersprache, die es seit dem Mittelalter gibt. Eine Geheimsprache. Ähnlich wie die Zinken, die Hausierer an Grundstücken hinterließen, um zu signalisieren, ob
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