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Spinnen füttern

Spinnen füttern

Titel: Spinnen füttern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rawi Hage
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Penis habe wie ich und Brüste wie meine Mutter. Sie hockte sich vor mich und flüsterte: Weil ich alles bin. Männer wollen immer nur Männer sein, und Frauen wollen Frauen sein, es gibt aber auch Menschen, die beides sind und gleichzeitig weder das eine noch das andere. Wenn du einmal groß bist, wird die Welt versuchen, dir weiszumachen, dass es nur das eine und das andere gibt. Wenn du die Zirkuswelt einmal verlassen solltest, wenn du unter den Menschen lebst, die zu uns kommen, die deiner Mutter und mir applaudieren, sobald wir die Manege betreten, dann wirst du verstehen, wie anders wir sind, wie magisch deine Kindheit eigentlich war. Im Zirkus und im Karneval lieben sich die Menschen, wie sie sind, mit allen ihren Seltsamkeiten. Das Publikum lässt uns gewähren, weil wir es mit unseren Tricks verzaubern, weil wir es mit Federn kitzeln und mit Staunen und Hoffnung fesseln. Sie brauchen nicht zu wissen, dass wir Bücher lesen, dass wir alle lieben, jeder auf seine Art, dass unsere Körper frei sind, dass wir reisen, wohin wir wollen, und uns zu wehren wissen. Es geht sie nichts an, dass wir den Verurteilten und Revolutionären Unterschlupf gewähren, dass wir Zigeunern und Juden das Leben gerettet haben. Sie brauchen nicht zu sehen, wie wir die Fesseln lösen, wie wir unseren Pferden das Tanzen beibringen, ohne Rüstung, ohne Schwerter; wir verraten nicht, dass der Muskelmann den Kanonenmann liebt, dass sie füreinander kochen und das Bett miteinander teilen, wir verraten nicht, dass bei jedem Flug des Kanonenmanns, unter dem Rauchschweif, den seine Füßen ziehen, der Muskelmann in den Kulissen steht, um ihn bei einem Sturz aufzufangen. Und auch du, mein Kleiner, darfst keiner Seele verraten, dass wir Wissende sind, keine Glaubenden. Wir wissen, dass nach dem großen Auftritt, der unser Leben ist, nichts mehr kommt, es bleibt nur der Staub unter den Füßen der Elefanten und der Lärm der klatschenden Äffchen. Wenn sie dir mit Propheten kommen, wenn sie dir ein Himmelreich von Milch und Honig versprechen, vergiss nicht, dass wir wie die Blumen sind, dass wir im Augenblick des Todes die Welt zum letzten Mal erblicken, anmutig und dankbar für alles, was uns staunen machte, für die Zauberkisten, die wir bauen durften, für die Tiere, die wir geliebt haben, für die Teppiche, die uns trugen, für die Sterne, die uns nach jeder Vorstellung geleuchtet haben, wenn wir die Zuschauer ihren Klagen überließen, dem Warten auf die phantastischen Züge, die sie in ihre erträumten Himmel bringen sollten …
    Eines Nachts, es war sehr spät, jammerte meine Mutter laut, nackt und zeternd irrte sie durchs Zeltlager. Sie versuchte, die Käfigtüren aufzubrechen, um sich den Löwen zum Fraß vorzuwerfen, aber der Löwenbändiger rettete sie. Er legte ihr eine Decke um die Schultern. Wieder verbrachte ich die meiste Zeit bei der Bärtigen Dame, die ich so sehr liebte. Jeden Morgen, bevor sie mir Brot und Butter und Milch reichte, küsste ich ihren Bart.
    Eines Tages, als meine Mutter wieder etwas zu Kräften gekommen war, stand sie auf, kletterte ins Trapez und erhängte sich. Man entdeckte sie dort, weil die Hunde anschlugen und der Schimpanse zum Himmel zeigte und der Elefant um das große Zelt lief und trompetend dies Ende verkündete.
    Meine Mutter liegt irgendwo zwischen der Donau und dem italienischen Stiefelabsatz begraben, Genaueres weiß ich nicht. Ich erinnere mich aber, dass ich die Hand der Bärtigen Dame hielt und zusammen mit Elefanten und im Tanzschritt tänzelnden, laut trappelnden, federgeschmückten Pferden hinter der Zigeunerband marschierte. Den Sarg trugen der Clown, der Muskelmann, der Kanonenmann und ihr Lieblingsschimmel. Anfangs gingen wir schweigend, doch als nach einer Weile die Band in Fahrt kam, tanzten wir mit unseren Regenschirmen.
    Fahrendes Volk, Zeltmacher und Hirten können sich glücklich schätzen, sagte die Bärtige Dame in ihrer Grabrede, sie sterben, wo immer sie wollen. Ihr Land ist die ganze Welt, der Wegesrand ihr Friedhof.
    Ich stand am offenen Grab, die Bärtige Dame hielt fest meine Hand, mit der rechten nahm ich eine Handvoll Staub und streute ihn auf den Sarg. Noch einmal spielten die Zigeuner.
    Am nächsten Tag wurde das Zelt abgebaut, der Zirkus zog weiter. Auf dem Weg wurden wir von Zöllnern angehalten, sie machten sich über uns lustig und ließen uns nicht passieren. Sie wollten unsere Pferde stehlen, wurden aber im letzten Moment vom Clown abgelenkt, und der Zauberer

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