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Spinnen füttern

Spinnen füttern

Titel: Spinnen füttern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rawi Hage
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sagte: Das Kind hat ja nichts auf den Rippen, seit ich ihn kenne, hat er nichts auf den Rippen. Er kommt zu mir rüber und bettelt um Essen. Ich gebe ihm Süßigkeiten, aber ich bin ja nicht seine Mutter. Ich kann ihm nicht einfach zu essen geben. Es muss doch irgendwen geben, der sich um ihn kümmern könnte. Denn Sie und die Mutter machen Ihre Sache ja nicht gerade gut.
    Fredao lächelte und sagte: Wir verstehen ja, dass Sie sich Sorgen machen, gute Frau. Hier, nehmen Sie das, für die Scherereien, die Sie hatten.
    Also hören Sie mal, wollen Sie mich etwa bestechen, Mister? Die Stimme der Frau hallte im Flur. Das Kind ist halb verhungert! Glauben Sie etwa, ich würde da einfach den Mund halten?
    Nun, Madam, wie gesagt, es ist nur, weil Sie so viel Ärger damit hatten. Sie haben dem Kind Süßigkeiten geschenkt, und als Dank bekommen Sie etwas Süßes von mir. Die Dinge des Lebens schmecken entweder süß oder bitter. Das Bittere habe ich Ihnen nicht angeboten, weil ich es erst mit dem Süßen versuchen wollte. Aber wenn die Leute das Süße nicht annehmen, bleibt mir oft nichts übrig, als das Bittere anzubieten. Also, meine Dame, wofür entscheiden Sie sich?
    Diesmal rufe ich noch nicht an. Und Sie stecken Ihr Zeug gleich wieder ein. Zögerlich und langsam zog die Nachbarin die Tür zu.
    Das ist Jahre her, jetzt stand Tammer vor meiner Tür und klopfte. Ich war gerade eingeschlafen, ich hatte eine lange Schicht hinter mir. Ich hörte es wummern und eine Stimme: Ich bin’s, Tammer! Mach auf!
    Ich öffnete und ließ ihn herein. Er war älter geworden, viel dünner, als ich ihn in Erinnerung hatte. Ich fragte sofort nach seiner Mutter, statt einer Antwort bat er mich um Kaffee und Doughnuts.
    Kaffee kann ich machen, sagte ich, aber Doughnuts habe ich keine. Und? Was gibt’s?
    Otto will dich sehen, sagte Tammer. Es ist dringend. Er hat gesagt, du sollst was zu saufen mitbringen, Bargeld und etwas Essbares.
    Wo steckt er denn?
    Er ist bei uns.
    In der Wohnung von deiner Mutter?
    Nein, unter der Brücke.
    Steh auf, sagte ich, wir gehen.
    Als wir ankamen, sah ich mich um. Ich entdeckte Spuren von Lagerfeuern, Taubenknochen, leere Schnapsflaschen, Lumpen und bunte Fetzen. Otto trat hinter einer Betonsäule hervor, die voller Vogelscheiße war. Er sah verkatert aus, er fror. Ich reichte ihm die Tüte mit den Lebensmitteln und der Flasche. In einem Umschlag war etwas Geld. Er riss ein Stück Brot ab und öffnete den Drehverschluss der Weinflasche, die er sofort an den Mund setzte. Tammer war im Taxi sitzen geblieben, ich sah, dass er am Radio drehte.
    Weißt du, was unser Problem ist, Fly?, sagte Otto. Wir können tun, was wir wollen, die Rituale und die Symbole holen uns immer wieder ein. Du hast mir Brot und Wein gereicht, rief er lachend, das soll wohl mein letztes Abendmahl sein. Sie kommen, um mich zu holen, sagte er und lachte noch immer.
    Wer kommt, um dich zu holen?
    Fly, ich habe gestern Abend einen Mann getötet.
    Du hast einen Mann getötet.
    Ja. Ich habe diesen Journalisten getötet.
    Er trat aus dem Schatten. Die Autos über uns ratterten über die Streben der Stahlbrücke. Ich stand da und fragte mich, warum ich den Lärm überhaupt beachtete. Du hast einen Mann umgebracht, wiederholte ich.
    Es ist einfach passiert, Fly. Wie, ich weiß nicht mehr, wie. Es war wie im Fieber, wie bei einem Sonnenstich. Wir unterhielten uns über Camus, ich dachte an Algerien, die Millionen Toten dort. Ich erinnere mich nicht, dass ich abgedrückt habe. Camus war ein Arschloch, habe ich gesagt, das weiß ich noch. Der Typ antwortete: Ja, aber er war doch ein großer Denker. Ein Arschloch, sagte ich, verstehen Sie? Wer die Kolonialmacht unterstützt und der indigenen Bevölkerung ihr eigenes Land streitig macht, der ist ein Arschloch. Leute wie Sie, die auf der Seite der Pieds-Noirs standen, Sie und Ihre Republik sind auch Arschlöcher. Das war der Punkt, an dem der Franzose aufstand und sich an einen anderen Tisch setzte …
    Ich war schon auf dem Weg nach Hause, Fly, aber mir ging Algerien nicht aus dem Kopf … Also wartete ich am Hintereingang, bis er herauskam, und folgte ihm zum Hotel. Ich habe mir die Clownsnase aufgesetzt, die ich noch in der Tasche hatte, wenn ich mich recht entsinne. Ich hatte meine Pistole dabei. Was dann passierte, weiß ich nicht. Es war dunkel. Wir waren in einer Gasse. Ich zwang ihn, die Namen bestimmter Orte aufzusagen, immer wieder, Spanien unter Napoleon, Haiti, Vietnam, Algerien. Bis der

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