Spione kuesst man nicht
Nicht einmal Mr Solomon. Ich schlich mich an die offene Tür – sah die Mädchen auf ihren üblichen Plätzen und Mr Solomon auf einem niedrigen Bücherregal im hinteren Teil des Raumes. Seine Hände umklammerten das dunkle Holz, während er sich lässig zurücklehnte.
Ich stand lange da und wusste nicht, was ich tun sollte. Endlich sagte ich: »Ich hab die Flasche.«
Aber Mr Solomon lächelte nicht. Er sagte nicht: »Gut gemacht.« Er sah mich nicht einmal an. Er starrte nur auf die weißen Fliesen des Bodens.
»Treten Sie ein, Miss Morgan«, sagte er leise. »Wir haben auf Sie gewartet.«
Ich steuerte auf meinen Tisch zu, und dann sah ich sie – die beiden leeren Stühle. Ich schaute meine Mitschülerinnen an, aber keine erwiderte meinen Blick.
»Sie müssten eigentlich zurück sein –«, begann ich, aber im selben Moment nahm Mr Solomon eine Fernbedienung in die Hand und drückte auf eine Taste. Das Zimmer wurde bis auf einen Lichtstrahl vom Projektor neben ihm dunkel. Ich stand direkt davor und erschien als Silhouette vor einem Bild auf der Leinwand.
Auf dem Bild saß Bex auf einer Mauer vor der Bibliothek von Roseville. Dann hörte ich es klicken, und ein anderes Bild erschien. Ich sah Liz, die hinter einem Baumstamm hervorspähte, was schlechter Stil ist, aber Mr Solomon sagte nichts. Sein Schweigen machte die Sache noch schlimmer. Wieder klickte es. Bex blickte über ihre Schulter und überquerte eine Straße. Klick. Liz stand neben einer Bude, die Donuts verkaufte.
»Fragen Sie ruhig, Miss Morgan!«, sagte Mr Solomon und seine Stimme hallte bedrohlich durch den verdunkelten Raum. »Wollen Sie nicht wissen, wo sie sind?«
Ich wollte es wissen, aber ich fürchtete mich vor der Antwort. Wieder erschienen Bilder auf der Leinwand, Überwachungsfotos, die von einem gut ausgebildeten, klug platzierten Team gemacht worden waren. Bex und Liz hatten nicht gewusst, dassdie Leute da waren – ich hatte nicht gewusst, dass sie da waren –, und doch hatte uns jemand auf Schritt und Tritt begleitet. Ich fühlte mich wie Beute.
»Fragen Sie mich, warum sie nicht hier sind!«, verlangte Mr Solomon. Ich sah seinen verschwommenen Umriss. Er hatte die Arme verschränkt. »Sie wollen eine Spionin sein, nicht wahr, Chamäleon?« Mein Deckname war der reinste Spott auf seinen Lippen. »Und jetzt sagen Sie mir, was mit Spionen passiert, die man erwischt!«
Nein , dachte ich.
Es klickte.
Ist das Bex? Natürlich war sie es nicht – sie war bei Mr Smith. Sie war in Sicherheit. Aber ich musste auf das dunkle, unscharfe Bild auf der Leinwand starren, ob ich wollte oder nicht – das blutverschmierte, angeschwollene Gesicht, das auf mich zurückstarrte –, und bangte zitternd um meine Freundin.
»Sie fangen nicht mit Bex an, wissen Sie?«, fuhr er fort. »Sie fangen mit Liz an.«
Wieder klickte es, und dann schaute ich auf ein Paar dünne Arme, die hinter einem Stuhl gefesselt waren, und lange blonde, blutige Haare. »Diese Leute verstehen ihr Handwerk. Sie wissen, dass Bex Schläge einstecken kann. Was Bex aber am meisten schmerzt, sind die Schreie ihrer Freundin.«
Das Licht des Projektors war warm, als es meine Haut berührte. Mr Solomon kam näher. Ich sah, wie sein Schatten sich neben meinen stellte.
»Und sie schreit wirklich – sie wird ungefähr sechs Stunden lang schreien, bis sie so dehydriert ist, dass sie keinen Laut mehr von sich geben kann.« Mein Blick wurde verschwommen, meine Knie wurden schwach. Entsetzen pochte so lautin meinen Ohren, dass ich ihn kaum verstehen konnte, als er flüsterte: »Danach nehmen sie sich Bex vor.« Wieder klickte es. »Für Bex haben sie sich etwas ganz Besonderes ausgedacht.«
Mir wird schlecht, dachte ich und konnte ihm nicht ins Gesicht sehen.
»Dazu wollen Sie sich verpflichten?« Er zwang mich, das Bild anzuschauen. »Sehen Sie, was mit Ihren Freundinnen passiert!«
»Aufhören!«, schrie ich. »Aufhören!« Und dann ließ ich die Flasche fallen. Der Flaschenhals zerbrach. Scherben schlitterten über den Fußboden.
»Sie haben zwei Drittel Ihres Teams verloren. Ihre Freundinnen sind weg.«
»Aufhören!«
»Nein, Miss Morgan, wenn es erst einmal anfängt, hört es nicht auf.« Mein Gesicht war heiß und meine Augen waren geschwollen. »Es hört nie auf.«
Und es hörte tatsächlich nicht auf. Er hatte recht, und das wusste ich nur allzu gut.
Ich ahnte, dass Mr Solomon sich an die Klasse wandte – sehen konnte ich es nicht – und fragte: »Wer
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